Behandelter Abschnitt Lk 2,22-35
Wir wollen nun einen Augenblick bei Simeon und Hanna stehen bleiben. Es waren also vierzig Tage nach der Geburt Jesu vergangen, als das Kindlein in den Tempel gebracht wurde, um daselbst dargestellt zu werden. Von Simeon ist ein Vierfaches gesagt: Er war gerecht, er war gottesfürchtig, er wartete auf den Trost Israels, und es war heiliger Geist auf ihm. Ob man Nachdruck darauf legen soll, dass es nicht „der heilige Geist" heisst, wollen wir für den Augenblick dahingestellt sein lassen — wie dem auch sein mag, es geht doch unzweideutig aus diesem Ausdruck hervor, dass der Geist auf ihm und nicht in ihm war.
„Der Heilige Geist wird in euch sein", spricht der Herr im Blick auf Pfingsten. Vor Pfingsten hatte kein Gläubiger den Heiligen Geist in der Weise wie nach Pfingsten in ihm wohnend. Heute, wo immer ein Mensch treu ist im Gehorsam gegen den Geist, der auf ihm ist, der ihn straft und zieht, da kann er sicher sein, dass eö früher oder später auch zur Innewohnung kommen wird, ohne dass er zuerst besondere Erfahrungen machen oder zuerst durch Handauslegung seitens anderer in den Besitz des Heilige» Geistes gebracht werden müsste. Nach dem Bericht in Apostelgeschichte 2,38 schliesst Petrus seine Pfingstpredigt mit den Worten: „Tut Busse.... und ihr werdet empfangen die Gabe des Heiligen Geistes", und dann fügt Lukas hinzu: „So viele ihrer das Wort gläubig aufnahmen, die wurden hinzugetan zu der Gemeinde" als vollberechtigte, vollgültige Glieder der Gemeinde, ohne dass es einer Handauflegung seitens der Apostel bedurft hätte.
Ist die Wortverkündigung eine klare, so sind Wort und Geist unzertrennbar. Simeon war gerecht, soweit irgendein Israelit gerecht sein konnte vor der rechtfertigenden und reinigenden Gnade des neuen Bundes — aber wie manche Gestalten des alten Bundes mögen Kinder des neuen Bundes zuschanden machen, die weit mehr haben, aber nicht treu mit dem ihnen von Gott Geschenkten umgehen. Er war gerecht und gottesfürchtig, und auf dieser Grundlage baut sich das dritte von ihm Hervorgehebene auf: Er war ein Wartender, wartend und dienend. Gott dienen und auf den Herrn warten, sind die Grundzüge eines Jüngers des neuen Bundes.
Simeon war nicht allein, denn nachdem von Hanna die Rede war, heisst es: „Sie pries den Herrn und redete von ihm zu allen, die auf Israels Erlösung und auf den Heiland der Welt warteten."
Da war also schon damals in Jerusalem ein Bund zwischen den Wartenden, wie auch heutzutage nichts Kinder Gottes so enge verbindet wie reales, nüchternes Warten auf den kommenden Herrn, der — nicht wie dazumal als kleines Kindlein, sondern — sieggekrönt kommt, um die auf ihn Wartenden heimzuholen, deren Lampen gefüllt sind, die sich bereitet haben, auf den ersten Ruf höher hinaufzugehen, bei denen nicht zuerst noch alles mögliche abzulösen ist. Darauf kommt jetzt natürlich alles an, dass wir zu den Wartenden gehören, die sich reinigen und lösen lassen von allem, was sie auf der Erde zurückhalten könnte, damit sie frei seien, dem Herrn auf den ersten Ruf entgegen zu gehen. Simeon wartete auf den Trost Israels.
Auch der Apostel Petrus sagt, wenn er von der Zukunft Christi redet: „Tröstet einander...Es ist der höchste Trost, der Trost, der jeden anderen Trost weit überragt: „Unser Herr kommt!" Es ist der Trost, der uns hinüberhebt über alles Drückende und Belastende, über alles, was einen veranlassen könnte, die Flügel hängen zu lassen, — der Trost, der einen auch hinüberhebt über alles, was einen leiblich bedrücken könnte. „Der Herr kommt!" — das ist der Trost der Gemeinde, der ihr hilft, auszuharren in allen Proben. „Der Herr kommt!" — dieser Trost ist alles wert, und es ist jeden Wehs, jeden Blutstropfens wert, damit man bereit sei, als Gelöster, als Gelöste ihm entgegenzugehen beim Schall der ersten Posaune.
Simeon ging nicht zu seinen Mitmenschen, um sich bei ihnen Trost zu holen, wie so viele Kinder Gottes es machen, dass sie anderen sagen und klagen, wie schwer sie durchgehen, und bei Menschen Trost suchen. Wer noch bei Menschen Trost sucht, dessen Herz ist nicht offen für den Trost Israels, dessen Blick ist nicht offen für das Kommen des Herrn, der merkt noch nicht, dass alles, was ihm seitens der Menschen oder sonst wie widerfährt, doch nur Zubereitung ist für das Kommen des Herrn, für das Erscheinen des Herrn und für die Teilhaftigkeit an seinem Kommen.
Ferner heisst es von Simeon: Es war heiliger Geist auf ihm. Das ist die erste Frucht. Wenn er auch den Heiligen Geist nicht in sich haben konnte, so blieb er dabei nicht stehen, sondern war dem Heiligen Geiste so gehorsam, dass dieser immer mehr Raum gewann, und da kam in seiner Entwicklung die Stufe, wo der Heilige Geist, der auf ihm war, ihm eine Offenbarung geben konnte, die nicht jedem zuteil wird, — nämlich die Gewissheit, dass er nicht sterben werde, er habe denn zuvor den Christ des Herrn gesehen. Man kann sich denken, welche Festigkeit und Ruhe eine solche Zusicherung aus dem oberen Heiligtum geben muss, welchen Trost sie geben musste dem Manne, der auf den 'Trost Israels wartete. Wer wirklich auf Trost, auf den wahren Trost wartet, der wird jetzt schon erquickt, gestärkt, ausgerüstet. Das war die zweite Stufe.
Erstens: der Heilige Geist, der auf ihm war, und zweitens: er hat die Zusage bekommen, dass er nicht sterben werde, er habe denn zuvor den Christ des Herrn gesehen. Und nun kommt die dritte Stufe, nämlich der Tag, wo der Geist dem Simeon deutlich sagt: „So, jetzt geh in den Tempel!" Hunderte und Tausende mögen solche Stimmen hören, die ihnen sagen, sie sollen dies oder das tun, dahin oder dorthin gehen, aber es sind keine echten Stimmen — das heisst, es ist nicht die Stimme des Heiligen Geistes. Dieser Mann war in einem langen Glaubensleben so gereift in der Zucht des Geistes, dass er Licht und Finsternis, seelische Stimmungen und Stimme des Geistes unterscheiden konnte, obwohl er nur ein Glied des alten Bundes war. Um das zu können, muss zuerst alles Eigene, alles Seelische, alles „eine Rolle spielen Wollen" abgeführt sein in die Zucht des Geistes, und wir haben viel mehr Verantwortung, wenn wir nicht unter der Zucht des Geistes stehen als Gläubige des alten Bundes, denn seine Stimme ist viel sicherer bei denen, die alles, auch alles seelische Wünschen, gefangen geben unter das eine, dass Gott mit ihnen zu seinem Rechte komme, nicht dass sie etwas Besonderes erreichen.
Dem Simeon war in erster Linie darum zu tun, dass Israel Trost bekomme, nicht nur er persönlich. Kinder Gottes, die vom Seelischen gelöst sind, haben einen Blick für die Nöte des Volkes, und dadurch bekommt Gott mehr Raum, mit seinem Geiste in ihnen zu wirken und in ihnen eine Scheidung zu bewerkstelligen, wie Kinder Gottes sie in noch ganz anderer Weise im neuen Bunde erfahren können, nämlich eine Scheidung zwischen Seele und Geist, die von Hebräer 4. Wo solche Scheidung stattgefunden Hal, kann sich Gott offenbaren. Simeon wusste, dass es nicht ein blosser Eindruck war, den er hatte, sondern dass es eine göttliche Offenbarung war. Es kommt aber noch einmal eine Probe. Es geht von Probe zu Probe. Man malt das Jesuskindlein gewöhnlich mit einem Heiligenschein, aber schon als Kindlein war unser Heiland ganz einfach und einfältig — da war kein Strahlenglanz um ihn zu sehen, vermöge dessen man ihn sogleich als den Heiland der Welt erkannt hätte.
Der Geist musste den alten Simeon zuerst zum Kindlein hinleiten — und wer dem Geiste Gehör schenkt, den führt der Geist zum Kinde hin. Da war gar nichts Besonderes; vielleicht waren noch andere Eltern da, die ihre neugeborenen Kinder zur Darstellung in den Tempel gebracht hatten, und da bedurfte es wiederum spezieller Leitung durch den Geist, um das Jesuskindlein unter den anderen Kindern herauszufinden. „Selig, wer sich nicht an mir ärgert!" So geht's von Glaubensprobe zu Glaubensprobe bei dem auf der Schwelle des neuen Bundes stehenden Simeon. Da bedurfte es grosser Vorsicht und Stille, um sich nicht zu täuschen; da galt es, gelöst zu sein von allem seelischen Wesen und von unheimlichen Dingen wie etwa, eine Rolle spielen zu wollen.
Hier finden wir heilige Ruhe, heilige Stille, heilige Sicherheit und göttliche Leitung bis ins einzelne hinein. „Und er kam auf Antrieb des Geistes in den Tempel...." Maria ist nicht auf ihn zugegangen, da war keine Vorstellung nötig. „Er nahm das Kindlein auf seinen Arm, lobte Gott und sprach:...." Was hatte er denn in seinem Arm? Ein Kindlein, wie er, der Greis, vielleicht schon Hunderte in den Armen gehalten hatte, und doch ein einzigartiges Kindlein, das so hoch über alle anderen erhaben war, wie der Himmel über die Erde erhaben ist. Es war eben der Geist, der ihn erleuchtete, und er sieht nun mit diesem Kindlein sein heissestes Verlangen erfüllt. „So, setzt kannst du heimgehen," sagte er sich. „Mehr brauche, mehr will ich nicht. Nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren. Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, deine Rettung, dein Heil."
In diesem Kindlein, das der Greis in den Armen hält, liegt das Heil der Völkerwelt. Das sieht Simeon mit dem äusserlich vielleicht schon matt gewordenen, aber innerlich vom Geiste durch und durch erleuchteten Auge, dieses Heil, von dem er sagt: „Welches du angesichts aller Nationen bereitet hast, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel", — des Volkes, das aber dem Simeon nicht gefolgt ist, das den Heiland der Welt nicht ausgenommen hat, sondern das ihn der Heiden Händen überantwortete, während er doch zur Rettung und zum Heil seines Volkes Israel gesandt worden war. Dennoch können Gott seine Gaben und Berufung nicht gereuen. Die Eltern schauen verwundert zu und lasten sich segnen vom Greise, der, während er sie segnet, im Geiste hinausschaut auf eine finstere dunkle Wolke, auf die Kreuzigung des Sohnes Gottes.