Herodes war nicht träge, sondern hat sich aufgemacht, nachdem er bald nachher merkte, dass die Weisen nicht zurückkamen. Gott hat das den Weisen nicht erlaubt, denn er wachte über das Kindlein. Zum näheren Verständnis der Weihnachtsgeschichte möchte ich heute früh nur noch eines bemerken. Wenn wir den Bericht des Matthäus mit dem des Lukas vergleichen, so haben wir erst Mühe, uns zu orientieren, wie alles zusammenstimmt. Tatsache ist, dass im Augenblick, als die Weisen kamen und von den Hohenpriestern nach Bethlehem gewiesen wurden, das Jesuskind bereits vierzig Tage alt war. Es war schon in den Tempel gebracht worden, und die beiden ehrwürdigen Alten, Simeon und Hanna, hatten es bereits begrüsst und ihrerseits ihre herrlichsten Hoffnungen in Erfüllung gehen sehen.
Simeon und Hanna hatten darob ihren Gott angebetet, denn der Herr hatte auch damals, wie wir sahen, wartende Anbeter — Leute, die sich nicht irre machen liessen, auch als sie nichts weiter vor sich sahen als ein einfaches Kindlein. Der Geist hatte sie geführt — dem Geiste hatten sie längst gehorchen gelernt, und sie liessen sich ebensowenig irre machen wie die Weisen. Das ist wahrer Geistesadel, wenn man im kleinsten und einfachsten Gottes Weg, Gottes Heil und seine Rettung erkennt. Hat man diesen Geistesadel nicht, so kommt man trotz der Erfahrung von den aller ausserordentlichsten Dingen zu kurz, weil man noch nicht gelernt hat, in der Erfahrung die Einfachheit der Erlösung durchbuchstabieren, und weil man nicht in der Einfalt des Evangeliums steht.
Ich sage, es waren bereits vierzig Tage vergangen seit der Geburt des Kindleins, denn Jesu Darstellung im Tempel, der Besuch der Weisen und der Mordanschlag des Herodes — das alles ging Schlag auf Schlag. Herodes hat keine Zeit verloren, sondern hat sich aufgemacht und alle Kindlein in Bethlehem und Umgegend umbringen lassen, damit er seiner Sache sicher sei. In der Nacht vorher kam ihm aber Gott zuvor und befahl Joseph, sich noch in der gleichen Nacht mit Weib und Kind davonzumachen nach Ägyptenland.
Lieben Geschwister,üben wir uns in der Einfalt und kommen wir in diesen Tagen zur Einfalt zurück angesichts dieser klassischen Anbeter aus dem Morgenlande, die nicht auf das Sichtbare sahen, sondern auf das Unsichtbare, und hinter einem unscheinbaren Kindlein den Retter der Welt erkannten, die einzig und allein den Spuren göttlicher Offenbarung in der Schrift nachgingen und daher anbeten und dann in Frieden ihre Strasse ziehen konnten. Wer unter uns hat nicht schon weit mehr von Gott empfangen als diese Weisen in ihr Heimatland mitnehmen konnten? Wer da hat, dem wird gegeben.
Wer in dem Masse, in dem er von Gott empfangen hat, ein Glaubensleben führt, wird immer unabhängiger von diesen oder jenen Erfahrungen, der wird ein Kind der Unsichtbarkeit. Das kommende Weihnachtsfest soll uns tiefer und immer tiefer in die Realität des Glaubenslebens führen, in die Realität, die Herrlichkeit, die verborgene Herrlichkeit des Glaubenslebens. Der wiederkommende Heiland will diejenigen auf sein Kommen zubereiten, die aus Glauben in Glauben gegangen und Kinder der Unsichtbarkeit geworden sind.
Siehe „Lk 2,22“ von Otto Stockmayer über Hanna und Simeon