Behandelter Abschnitt 5. Mose 15,12-18
Der hebräische Knecht
Wir kommen jetzt zu dem Gebot über den hebräischen Knecht. „Wenn dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, sich dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen; und im siebten Jahr sollst du ihn frei von dir entlassen. Und wenn du ihn frei von dir entlässt, so sollst du ihn nicht leer entlassen: Du sollst ihm reichlich aufladen von deinem Kleinvieh und von deiner Tenne und von deiner Kelter; von dem, womit der Herr, dein Gott, dich gesegnet hat, sollst du ihm geben“ (V. 12–14).
Wie schön ist das! Gott wollte nicht, dass der Bruder leer ausgehen sollte, denn Freiheit und Armut harmonieren nicht miteinander. Er sollte nicht nur frei ausgehen, sondern auch reichlich ausgestattet und völlig befriedigt werden im Hinblick auf seine Bedürfnisse. Das ist wirklich göttlich. Wir haben nicht nötig, zu fragen, in welcher Schule solch ausgezeichnete Lehren erteilt werden. Sie tragen das Gepräge des Himmels und verbreiten den Wohlgeruch des Paradieses Gottes. Hat nicht Gott genau so mit uns gehandelt? Er hat uns nicht nur Leben und Freiheit gegeben, sondern uns auch großzügig mit allem beschenkt, was wir für Zeit und Ewigkeit brauchen. Er hat uns die unermesslichen Schatzkammern des Himmels geöffnet. Er hat den Sohn seiner Liebe nicht nur für uns gegeben, um uns zu erretten, sondern Er hat ihn uns auch als Gabe geschenkt, um uns zu erfreuen. Er hat uns „alles zum Leben und zur Gottseligkeit geschenkt“ (2Pet 1,3). Alles in Betreff „des jetzigen und des zukünftigen Lebens“ (1Tim 4,8) ist uns zugesichert durch die freigebige Hand unseres Vaters.
Wie rührend ist schon die Ausdrucksweise, in der Gott die Behandlung des hebräischen Knechtes vorschreibt! „Du sollst ihm reichlich aufladen“, nicht wenig oder ungern, sondern so wie es Gott entspricht. Er will, dass wir seine Nachahmer sind in einer Welt, die seinen Sohn gekreuzigt hat. Er hat uns nicht nur diese erhabene Würde übertragen, sondern uns auch mit einem fürstlichen Vermögen versehen, um sie zeigen zu können. Er hat uns die unerschöpflichen Quellen des Himmels zur Verfügung gestellt. „Denn alles ist unser“ durch seine unendliche Gnade.
In Vers 15 wird dem Volk ein Motiv vorgestellt, das darauf abzielte, ihre Zuneigungen und Mitgefühle zu wecken. „Und du sollst dich daran erinnern, dass du ein Knecht gewesen bist im Land Ägypten, und dass der Herr, dein Gott, dich erlöst hat; darum gebiete ich dir heute diese Sache“. Die Erinnerung an die Gnade des Herrn, als Er sie aus Ägypten erlöste, sollte das bleibende und mächtige Motiv ihres Handelns mit dem armen Bruder bilden. Dieser Grundsatz allein wird standhalten. Wenn wir den Ursprung unserer Motive woanders als in Gott selbst und in seinem Handeln mit uns suchen, wird unser praktisches Leben bald scheitern. Nur wenn wir das lebendige Wissen um die wunderbare Gnade bewahren, die Gott in der Erlösung in Christus Jesus uns offenbart hat, können wir in echtem, tätigen Wohlwollen sowohl gegen unsere Brüder als auch gegen die, die draußen sind, beharren. Bloße freundliche Gefühle, die in unseren Herzen aufwallen, oder die durch den Kummer, die Not und das Leiden anderer angeregt werden, verschwinden bald wieder. Unversiegbare Quellen finden sich nur in dem lebendigen Gott.
In Vers 16 wird der Fall behandelt, wo ein Knecht es vorzieht, bei seinem Herrn zu bleiben. „Und es soll geschehen, wenn er zu dir spricht: Ich will nicht von dir weggehen – weil er dich und dein Haus liebt, weil ihm wohl bei dir ist –, so sollst du einen Pfriem nehmen und ihn durch sein Ohr in die Tür stechen, und er wird dein Knecht sein für immer“.
Diese Stelle zeigt im Vergleich zu 2. Mose 21,1-6, einen bemerkenswerten Unterschied. Während dort der bildliche Charakter vorherrscht, tritt hier mehr der sittliche in den Vordergrund. Deshalb erwähnt der Schreiber hier nichts von der Frau und den Kindern des Knechtes, da dies seinem Zweck nicht entsprechen würde, während ihre Erwähnung im zweiten Buch Mose die Schönheit und Vollkommenheit des Bildes erhöht. Dies ist ein weiterer treffender Beweis dafür, dass das fünfte Buch Mose mehr ist als eine bloße Wiederholung der vorhergehenden Bücher.
Wir haben also hier mehr die sittliche Seite dieser Anordnung. Der Knecht liebt seinen Herrn und fühlt sich glücklich bei ihm. Er zieht deshalb eine lebenslängliche Knechtschaft einer Freiheit vor, die ihn von seinem geliebten Herrn trennen würde, und will lieber für immer die Zeichen der Knechtschaft tragen, als die mit der Freiheit verbundenen Segnungen fern von seinem Herrn genießen. Solch ein gutes Verhältnis zwischen Herr und Knecht wirft auf beide ein gutes Licht. Die Herren unter uns sollten sich wohl fragen, inwieweit sie das Wohl und das Glück ihrer Untergebenen im Auge haben. Sie sollten nie vergessen, dass sie im Blick auf sie an weit mehr zu denken haben, als an die Menge der Arbeit, die sie ihnen leisten können. Schon nach dem einfachen Prinzip: „Leben und leben lassen“ sind sie verpflichtet, ihre Angestellten glücklich und zufrieden zu machen und ihnen das Bewusstsein zu vermitteln, dass nicht nur ihre Dienstleistungen, sondern auch die Liebe ihrer Herzen gesucht werden.
Aber ein christlicher Herr sollte nach einem höheren Prinzip handeln. Er hat das Vorrecht, ein Nachahmer Christi, seines Herrn, zu sein. Die Erinnerung daran wird sein ganzes Verhalten gegen seine Untergebenen regeln und ihn anspornen, dem göttlichen Vorbild gemäß in allen praktischen Einzelheiten des täglichen Lebens zu handeln.
Dasselbe gilt auch für den christlichen Knecht hinsichtlich seiner Stellung und seines Verhaltens. Wie sein Herr, so hat auch er das große Vorbild zu betrachten, das ihm in dem Weg und Dienst des einzig vollkommenen Dieners, der je auf der Erde gelebt hat, vorgestellt ist. Er sollte in seinen Fußstapfen wandeln, seinen Geist offenbaren und sein Wort erforschen. Es ist wichtig, dass der Heilige Geist der Unterweisung der im Dienstverhältnis Stehenden mehr Aufmerksamkeit gewidmet hat als allen übrigen Beziehungen zusammen. Man kann dies mit einem Blick in den Briefen an die Epheser, die Kolosser und an Titus feststellen. Der christliche Knecht kann die Lehre seines Heiland-Gottes zieren, indem er nichts veruntreut und nicht widerspricht. Er kann dem Herrn Christus in den einfachsten Verrichtungen des häuslichen Lebens ebenso wirksam dienen wie der, der vor einem großen Publikum die frohe Botschaft des Heils verkündigt.
Wenn beide, Herr und Knecht, durch himmlische Prinzipien beherrscht werden und versuchen, ihrem gemeinschaftlichen Herrn zu dienen und ihn zu verherrlichen, dann wird es ein glückliches Zusammenleben beider zur Folge haben.
Im Vers 18 finden wir eine Ermahnung, die sehr zart eine im Menschenherzen verborgene böse Wurzel aufdeckt. „Es soll nicht schwer sein in deinen Augen, wenn du ihn frei von dir entlässt; denn was an Wert das Doppelte des Lohnes eines Tagelöhners ausmacht, hat er dir sechs Jahre lang gedient; und der Herr, dein Gott, wird dich segnen in allem, was du tust“.
Es ist rührend, dass Gott sich herablässt, um für die Ansprüche eines armen Knechtes einzutreten und sie seinem Herrn ans Herz zu legen, als handle es sich um ihn selbst. Er lässt nichts ungesagt, was der Sache des Knechtes dienen könnte. Er erinnert den Herrn an den Wert einer sechsjährigen Dienstzeit und sucht ihn durch die Verheißung größerer Segnungen als Lohn für sein edelmütiges Handeln zu ermutigen. Gott wollte nicht nur, dass die edle Tat geschähe, sondern dass sie auch in einer Weise vollzogen würde, die das Herz des Knechtes erfreuen musste. Er denkt nicht nur an die Handlung selbst, sondern auch an die Art, wie sie auszuführen ist. Wir mögen uns manchmal aus einem gewissen Pflichtgefühl heraus zu einer edlen Tat aufraffen; aber weil wir sie mit schwerem Herzen tun, berauben wir sie ihres ganzen Wertes. Es ist das edelmütige Herz, das eine edelmütige Tat ziert. Wir sollten eine Freundlichkeit immer so erweisen, dass der Empfänger fühlt, wie sehr unser eigenes Herz dadurch erfreut wird.