Behandelter Abschnitt 5. Mose 13,12-18
Eine ganze Stadt verfällt dem Götzendienst
Der letzte Abschnitt unseres Kapitels (V. 12–18) gibt uns eine Belehrung von ernstem Charakter. Sie gründet sich zugleich auf eine Wahrheit von großem Wert, nämlich auf die nationale Einheit Israels. Es wird hier von einem schweren Vergehen in einer Stadt Israels gesprochen, und sehr leicht könnte die Frage gestellt werden: Sind denn alle Städte Israels an der Sünde einer einzigen beteiligt?20 Ja, alle waren daran beteiligt, da das Volk eine unauflösliche Einheit bildete. Die Städte und Stämme waren nicht unabhängig voneinander, sondern verbunden durch ein heiliges Band nationaler Einheit, deren Mittelpunkt die Stätte der Gegenwart Gottes war. Die zwölf Brote auf dem goldenen Tisch im Heiligtum waren das ausdrucksvolle Bild dieser unauflöslichen Einheit, und jeder treue Israelit erkannte sie an und erfreute sich darüber. Die zwölf Steine im Flussbett des Jordan, die zwölf Steine an seinem Ufer und die später durch Elia auf dem Berg Karmel aufgerichteten zwölf Steine bezeugten dieselbe Wahrheit, dass die zwölf Stämme Israels unauflöslich miteinander verbunden waren.
Der fromme König Hiskia erkannte dies ebenfalls an, als er gebot, das Brandopfer und das Sündopfer für ganz Israel zu bringen (2Chr 29,24). Der gottesfürchtige König Josia dehnte auf Grund dieser Wahrheit seine reformatorische Tätigkeit auf alle Länder aus, die zu Israel gehörten (2Chr 34,33). Paulus bekundet diese Wahrheit auch in seiner Rede vor dem König Agrippa, wenn er sagt: „Zu der (Hoffnung) unser zwölfstämmiges Volk, unablässig Nacht und Tag Gott dienend, hinzugelangen hofft“ (Apg 26,7). Wir finden sie auch in Offenbarung 7, wo wir die zwölf Stämme versiegelt und für die ewige Segnung und Herrlichkeit abgesondert sehen, und zwar in Verbindung mit einer zahllosen Menge aus den Nationen. Und schließlich ersehen wir aus Offenbarung 21, dass die Namen der zwölf Stämme auf die Tore des neuen Jerusalem geschrieben sind, des himmlischen Sitzes und Mittelpunktes der Herrlichkeit Gottes und des Lammes.
Von dem goldenen Tisch im Heiligtum bis zu der goldenen Stadt, die aus dem Himmel herabkommt von Gott, besteht eine ununterbrochene Kette von Beweisen für die Wahrheit der unauflöslichen Einheit der zwölf Stämme Israels.
Die Einheit des Leibes Christi
Fragt man nun: „Wo ist diese Einheit zu sehen? Wie konnten Elia, Hiskia, Josia und Paulus sie erkennen?“, so gibt es darauf nur eine Antwort: „Sie sahen sie durch den Glauben“. Sie schauten in das Heiligtum Gottes und sahen dort die zwölf Brote, die die zwölf Stämme in ihrer Verschiedenheit und zugleich in ihrer vollkommenen Einheit darstellten. Die Wahrheit Gottes muss ewig bestehen. Israels Einheit ist in der Vergangenheit gesehen worden und wird in der Zukunft gesehen werden. Wenn sie auch jetzt, gleich der höheren Einheit der Versammlung, dem menschlichen Auge unsichtbar ist, hält dennoch der Glaube an ihr fest und bekennt sich dazu.
Beschäftigen wir uns jetzt noch einen Augenblick mit der praktischen Anwendung der in unserem Abschnitt dargestellten Wahrheit. Nehmen wir an, zu einer Stadt im Norden des Landes Israel wäre die Nachricht gebracht worden, dass in einer anderen, südlich gelegenen Stadt ein Irrtum gelehrt würde, der die Einwohner dieser Stadt von dem wahren Gott zu entfernen drohte. Was musste in einem solchen Fall die Stadt im Norden tun? Das Gebot lautete klar und deutlich: „Du sollst genau untersuchen und nachforschen und fragen“ (V. 15). „Aber“, so hätten einige Bürger sagen können, „was haben wir hier im Norden mit den Irrtümern zu tun, die im Süden gelehrt werden? Ist nicht jede Stadt für die Aufrechterhaltung der Wahrheit innerhalb ihrer eigenen Mauern verantwortlich? Wir verurteilen ganz entschieden die Irrlehre und werden jedem, der sie uns bringen will, unsere Tore verschließen, aber wir fühlen uns nicht verpflichtet, alle Irrtümer zu untersuchen, die irgendwo im Land auftauchen.“
Was hätte ein treuer Israelit auf diese Einwände, die dem menschlichen Verstand so richtig und annehmbar erscheinen, geantwortet? Zweifellos, dass dadurch die Einheit Israels geleugnet würde. Wenn jede Stadt und jeder Stamm einen so unabhängigen Standpunkt eingenommen hätte, dann hätte der Hohepriester die zwölf Brote vor dem Angesicht des Herrn wegnehmen können, denn dann hätten sie ihre Bedeutung als Sinnbild der Einheit Israels verloren. Doch Israel war ein Ganzes! Eine Sünde, die in Dan geschehen war, musste deshalb auch die Bewohner Beersebas berühren. Wer also seine Hände gleichgültig in den Schoß legte, machte sich auf diese Weise eins mit jenem Bösen.
Wenn dies damals für Israel galt, so gilt es erst recht für die Versammlung Gottes in der heutigen Zeit. Jede Gleichgültigkeit in einer Sache, die Christus betrifft, ist hassenswürdig vor Gott. Es ist sein ewiger Vorsatz und Ratschluss, seinen Sohn zu verherrlichen. Jedes Knie soll sich vor ihm beugen und jede Zunge bekennen, dass Er Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters. Er will, „damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren“ (Joh 5,23).
Wenn daher Christus verunehrt wird, wenn Lehren aufgestellt und verbreitet werden, die die Herrlichkeit seiner Person, die Auswirkung seines Werkes oder die Kraft seines Dienstes schmälern, dann haben wir die ernste Pflicht, mit aller Entschiedenheit dagegen Stellung zu beziehen. Gleichgültigkeit in Dingen, die den Sohn Gottes betreffen, ist Verrat an der Sache Gottes. Wenn wir schon über unseren Ruf, unseren Charakter oder unser Eigentum nicht gleichgültig hinwegsehen, wie viel weniger sollten wir es tun, wenn die Herrlichkeit und Ehre, der Name und die Sache dessen angetastet werden, dem wir für Zeit und Ewigkeit alles verdanken.
Mit der Herrlichkeit des Hauptes ist aber die große Wahrheit von der Einheit des Leibes, der Versammlung, unmittelbar verbunden. Wenn Israel eins war, wie viel mehr ist es dann der Leib Christi! Wenn in Israel jede Unabhängigkeit falsch war, wie viel mehr gilt das von der Versammlung Gottes. So wenig man sagen kann, dass die Hand vom Fuß oder das Auge vom Ohr unabhängig ist, ebenso wenig kann man behaupten, dass die Glieder des Leibes Christi unabhängig voneinander seien (vgl. 1Kor 12,12-27).
In diesem Kapitel wird uns also klar und eindringlich gezeigt, dass der Gläubige ein Glied des Leibes Christi ist. Das bedeutet nicht nur Vorrechte für den Christen, sondern weist uns auch auf die höchste Verantwortlichkeit hin. Der Christ kann sich nicht als unabhängige Person verstehen, die keine Verbindung mit anderen hat, sondern er ist in lebendiger Weise verbunden mit allen Kindern Gottes, allen wahren Gläubigen, allen Gliedern des Leibes Christi auf der Erde. „In einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden“. Die Versammlung Gottes ist nicht einfach eine Gesellschaft oder eine Vereinigung. Sie ist ein Leib, der durch den Heiligen Geist mit seinem Haupt im Himmel vereinigt ist, und dessen Glieder auf der Erde unauflöslich miteinander verbunden sind. Daraus folgt notwendigerweise, dass alle Glieder des Leibes von dem Zustand und Wandel jedes einzelnen Gliedes betroffen werden. „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit“. Ist der Fuß nicht in Ordnung, dann fühlt das die Hand, und zwar wie? Durch das Haupt. So verhält es sich auch bei der Versammlung Gottes. Wenn es mit einem einzelnen Glied nicht gut steht, dann fühlen das alle Glieder mit, und zwar durch das Haupt, mit dem alle durch den Heiligen Geist lebendig verbunden sind.
Viele finden es schwer, diese Wahrheit anzunehmen. Aber sie ist im Wort klar offenbart. Sie ist eine göttliche Offenbarung. Kein menschlicher Verstand hätte je einen solchen Gedanken ausdenken können; aber Gott offenbart es, und der Glaube ergreift es und lebt in der daraus entspringenden gesegneten Kraft. Aber wie kann denn der schlechte Zustand eines Gläubigen solche beeinflussen, die gar nichts davon wissen? Die Antwort lautet: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit“, nicht nur die Glieder der Versammlung am gleichen Ort, die die betreffende Person näher kennt und unmittelbar mit ihr in Verbindung steht, sondern alle Glieder des ganzen Leibes, wo sie auch sein mögen. So haben wir bei Israel gesehen (und dort handelte es sich nur um eine nationale Einheit), dass es alle betraf, wenn in irgendeiner ihrer Städte etwas Böses geschehen war. Obgleich Tausende des Volkes nichts von der Tatsache wissen mochten, dass Achan gesündigt hatte, sagte dennoch der Herr: „Israel hat gesündigt“, und das ganze Volk erlitt eine schmähliche Niederlage.
20 Man muss hier bemerken, dass das beschriebene Verhalten deshalb so ernst war, weil es der Versuch war, das Volk von dem lebendigen und wahren Gott abzuziehen. Das tastete die Grundlage des nationalen Bestehens Israels an. Es war nicht nur eine örtliche, sondern eine nationale Frage.↩︎