Behandelter Abschnitt 4. Mose 35,15-21
Israel des Totschlags schuldig
Diese schöne Einrichtung hat in besonderer Weise Bezug auf Israel. Die Juden haben den Fürsten des Lebens getötet. Betrachtet Gott sie nun als Mörder oder als Totschläger? Im ersten Fall gibt es keine Zuflucht und keine Hoffnung. Kein Mörder konnte in der Zufluchtsstadt Schutz finden. Das Gesetz für den Totschläger, wie wir es in Josua 20 finden, lautet: „Und der Herr redete zu Josua und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich: Bestimmt euch die Zufluchtsstädte, von denen ich durch Mose zu euch geredet habe, dass dahin fliehe ein Totschläger, der jemand aus Versehen, unabsichtlich, erschlagen hat; und sie seien euch zur Zuflucht vor dem Bluträcher. Und er soll in eine von diesen Städten fliehen, und am Eingang des Stadttores stehen und vor den Ohren der Ältesten jener Stadt seine Sache vorbringen; und sie sollen ihn zu sich in die Stadt aufnehmen und ihm einen Ort geben, damit er bei ihnen wohne.
Und wenn der Bluträcher ihm nachjagt, so sollen sie den Totschläger nicht in seine Hand ausliefern; denn er hat seinen Nächsten unabsichtlich erschlagen, und er hasste ihn vordem nicht. Und er soll in jener Stadt wohnen, bis er vor der Gemeinde zu Gericht gestanden hat, bis zum Tod des Hohenpriesters, der in jenen Tagen sein wird; dann mag der Totschläger zurückkehren und in seine Stadt und in sein Haus kommen, in die Stadt, aus der er geflohen ist“ (V. 1–6). Aber hinsichtlich eines Mörders war das Gesetz streng und unbeugsam. Er sollte unbedingt getötet werden, und zwar sollte der Bluträcher ihn töten; „wenn er ihn antrifft, soll er ihn töten“ (vgl. 4. Mose 35,18.19).
Israel wird der wunderbaren Gnade Gottes nach als ein Totschläger und nicht als ein Mörder behandelt werden. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ (Lk 23,34). Diese Worte stiegen zu dem Gott Israels empor. Sie wurden gehört und erhört. Doch dürfen wir nicht meinen, dass die Erhörung am Pfingsttag aufhörte. Nein, sie gilt noch, und ihre Wirkungskraft wird sich in der zukünftigen Geschichte des Hauses Israel erweisen.
Sie sind jetzt aus dem Land und der Heimat ihrer Väter verbannt.17 Doch die Zeit kommt, in der sie wieder ganz in ihr Land gebracht sein werden, nicht durch den Tod des Hohenpriesters – Er kann nie mehr sterben –, sondern dadurch, dass Er seine gegenwärtige Stellung verlassen und sich in einem neuen Charakter als der königliche Priester darstellen wird, um sich auf seinen Thron zu setzen. Dann werden alle Verbannten in ihre Heimat und in ihr Erbteil zurückkehren. Der Totschläger muss bis zur festgesetzten Zeit außerhalb seines Besitzes bleiben. Doch soll er nicht als Mörder behandelt werden, weil er unwissend gehandelt hat. „Mir ist Barmherzigkeit zuteilgeworden“, sagt der Apostel Paulus, indem er als ein Vorbild Israels spricht, „weil ich es unwissend im Unglauben tat“ (1Tim 1,13). „Und jetzt, Brüder“, sagt Petrus, „ich weiß, dass ihr in Unwissenheit gehandelt habt, so wie auch eure Obersten“ (Apg 3,17).
Diese Stellen, zusammen mit der wichtigen Fürbitte dessen, der geschlagen wurde, stellen Israel klar auf den Boden des Totschlägers und nicht auf den des Mörders. Gott hat für sein geliebtes Volk eine Zufluchtstätte bereitet, und zu seiner Zeit wird das ganze Volk in seine lange verlorenen Wohnungen zurückkehren, in das Land, das der Herr seinem Freund Abraham für immer als Geschenk gegeben hat.
Anwendung auf den Sünder
Das ist wohl die Erklärung der Verordnung über die Zufluchtsstädte. Wollten wir sie auf einen Sünder anwenden, der seine Zuflucht zu Christus nimmt, so könnte das nur begrenzt geschehen, denn wir würden überall mehr Widerspruch als Übereinstimmung finden. Erstens war der Totschläger in der Zufluchtsstadt nicht vom Gericht befreit, wie wir in Josua 20,6 sehen, während für den, der an Christus glaubt, kein Gericht mehr ist noch sein kann, weil Christus an seiner statt das Gericht getragen hat. Ferner konnte der Totschläger immer noch in die Hände des Rächers fallen, wenn er es wagte, die Stadt zu verlassen. Derjenige aber, der an Jesus glaubt, kann nie mehr umkommen. Er ist so sicher wie der Erlöser selbst. Für den Totschläger endlich handelt es sich um zeitliche Sicherheit und um ein Leben in dieser Welt. Für den an Jesus Glaubenden dagegen handelt es sich um eine ewige Errettung und um ewiges Leben in der zukünftigen Welt. So sehen wir also, dass fast in allen Einzelheiten mehr Widerspruch da ist als Ähnlichkeit.
Folgendes ist jedoch beiden gemein: Die Tatsache, dass beide, der Totschläger und der Sünder, einer schrecklichen Gefahr ausgesetzt sind, und das dringende Bedürfnis nach einer Zuflucht. Der Totschläger hätte eine große Torheit begangen, wenn er nicht mit allen Mitteln versucht hätte, die Zufluchtsstadt so schnell wie möglich zu erreichen; und es ist eine noch unglaublichere Torheit, wenn der Sünder wartet oder zögert, zu Christus zu kommen. Dem Rächer gelang es vielleicht nicht, den Totschläger zu ergreifen, wenn er die rettende Stadt noch nicht erreicht hatte; aber der Sünder ist außerhalb von Christus dem Gericht unweigerlich verfallen. Es gibt keine Möglichkeit zu entrinnen. Was für ein ernster Gedanke! Möchte er in seiner ganzen Tragweite das Herz des Lesers treffen, der noch in seinen Sünden dahingeht! Möchte dieser Leser keinen Augenblick Ruhe finden, bis er in eine Zufluchtsstadt geflohen ist, bis er die Hoffnung ergriffen hat, die ihm im Evangelium angeboten wird! Das Gericht droht – ein sicheres, gewisses und ernstes Gericht. Es muss auf alle kommen, die ohne Christus sind.
Wenn du noch unbekehrt und sorglos bist und dieses Buch in deine Hände fallen sollte, dann höre die warnende Stimme! Fliehe um deines Lebens willen! Zögern ist die größte Torheit. Du kennst die Stunde nicht, in der dein Leben zu Ende ist und du dahin kommst, wo kein Hoffnungsstrahl dich erreichen kann, an den Platz ewiger Nacht und ewiger Qual, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt. Komm jetzt, so wie du bist, zu Jesus, der mit offenen Armen und liebendem Herzen bereitsteht, dich aufzunehmen, zu schützen, zu erretten und zu segnen nach der ganzen Liebe seines Herzens und der vollkommenen Wirksamkeit seines Namens und seines Opfers. Möge Gott, der ewige Geist, durch seine unendliche Kraft dich leiten, jetzt zu kommen! „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen“, sagt der liebende Herr und Heiland, „und ich werde euch Ruhe geben!“ (Mt 11,28).
17 C.H. Mackintosh lebte im 19. Jahrhundert! (Anm. d. Herausg.)↩︎