Behandelter Abschnitt 4. Mose 16,41-50
Am nächsten Morgen
Der letzte Abschnitt unseres Kapitels offenbart durchschlagend die unveränderliche Bosheit des menschlichen Herzens. Man hätte wohl hoffen können, dass die Gemeinde durch die ergreifenden Vorgänge, deren Augenzeugen sie gewesen war, tiefe und dauernde Eindrücke empfangen hätte. Sie hatten gesehen, wie die Erde ihren Mund auftat. Sie hatten das Geschrei der Empörer gehört. Sie hatten beobachtet, wie das Feuer von dem Herrn ausging und die zweihundertundfünfzig Fürsten der Gemeinde in einem Augenblick verschlang. Sie waren Zeugen gewesen von all diesen Beweisen des Gerichts, von der Entfaltung der Macht und Majestät Gottes. Von da an hätte nach diesen Erfahrungen die Stimme der Unzufriedenheit und Empörung in den Zelten des Volkes nicht mehr gehört werden dürfen.
Aber das Fleisch ist ganz und gar unverbesserlich und der Mensch unfähig, zu lernen. Diese Wahrheit finden wir auf jeder Seite des Buches Gottes wieder, besonders auch in dem vor uns liegenden Abschnitt. „Und die ganze Gemeinde der Kinder Israel murrte [es waren nicht mehr nur einige verwegene Geister] am anderen Morgen“, – denken wir daran: nicht ein Jahr, einen Monat oder auch nur eine Woche nach diesen schrecklichen Vorgängen, sondern am anderen Morgen – „gegen Mose und gegen Aaron und sprach: Ihr habt das Volk des Herrn getötet! Und es geschah, als die Gemeinde sich gegen Mose und gegen Aaron versammelte, da wandten sie sich zu dem Zelt der Zusammenkunft, und siehe, die Wolke bedeckte es, und die Herrlichkeit des Herrn erschien. Da gingen Mose und Aaron vor das Zelt der Zusammenkunft. Und der Herr redete zu Mose und sprach: Erhebt euch weg aus der Mitte dieser Gemeinde, und ich will sie in einem Augenblick vernichten“ (V. 41–45)!
Hier gibt es für Mose eine neue Gelegenheit, seine oft erprobte Uneigennützigkeit und seine Liebe zu dem Volk zu beweisen. Die ganze Gemeinde ist wieder von sofortiger Vernichtung bedroht. Alles erscheint hoffnungslos. Die Langmut Gottes scheint ihr Ende erreicht zu haben. Doch gerade die Männer, die von den Murrenden beschuldigt worden waren, das Volk des Herrn getötet zu haben, werden die Werkzeuge Gottes zur Rettung ihres Lebens! „Da fielen sie auf ihr Angesicht. Und Mose sprach zu Aaron: Nimm die Räucherpfanne und tu Feuer vom Altar darauf und lege Räucherwerk auf, und bring es schnell zu der Gemeinde und tu Sühnung für sie; denn der Zorn ist von dem Herrn ausgegangen, die Plage hat begonnen. Und Aaron nahm die Räucherpfanne, so wie Mose geredet hatte, und lief mitten unter die Versammlung, und siehe, die Plage hatte unter dem Volk begonnen; und er legte das Räucherwerk auf und tat Sühnung für das Volk. Und er stand zwischen den Toten und den Lebendigen, und der Plage wurde gewehrt“ (V. 46–48).
Hier zeigt es sich klar, dass nichts als das Priestertum – eben jenes Priestertum, das so verachtet worden war – das aufrührerische und hartnäckige Volk retten konnte. Dieser letzte Abschnitt enthält etwas unaussprechlich Gesegnetes. Da steht Aaron, der Hohepriester Gottes, zwischen den Toten und den Lebendigen, und von seiner Räucherpfanne steigt eine Wolke von Räucherwerk zu Gott empor: ein treffendes Bild von dem, der größer ist als Aaron und der, nachdem Er für die Sünden seines Volkes eine vollkommene Versöhnung vollbracht hat, immer vor Gott steht in dem ganzen Wohlgeruch seiner Person und seines Werkes. Das Priestertum allein konnte das Volk durch die Wüste führen. Es war die reiche und passende Vorsorge der Gnade Gottes. Das Volk verdankte dem Dazwischentreten des Hohenpriesters seine Bewahrung vor den gerechten Folgen seines empörerischen Murrens. Wären sie bloß nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit behandelt worden, so hätte nichts anderes gesagt werden können als: „Lasst mich, dass ich sie in einem Augenblick vertilge!“
Unverzügliche Vernichtung ist das Werk der Gerechtigkeit, völlige und endgültige Befreiung das herrliche und kennzeichnende Werk der göttlichen Gnade, einer Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht. Hätte Gott nun in Gerechtigkeit mit dem Volk gehandelt, so wäre sein Name nicht völlig verherrlicht worden, weil in diesem Namen weit mehr enthalten ist als Gerechtigkeit, nämlich: Liebe, Barmherzigkeit, Güte, Freundlichkeit, Langmut, tiefes und nie versagendes Erbarmen. Aber von allem diesem wäre nichts gesehen worden, wenn der Herr das Volk in einem Augenblick vertilgt hätte und der Name des Herrn wäre nicht völlig bekannt und verherrlicht worden. „Um meines Namens willen halte ich meinen Zorn zurück, und um meines Ruhmes willen bezwinge ich ihn, dir zu gut, um dich nicht auszurotten . . . Um meinetwillen, um meinetwillen will ich es tun; denn wie würde mein Name entweiht werden! Und meine Ehre gebe ich keinem anderen“ (Jes 48,9.11).
Wie gut ist es für uns, dass Gott um der Ehre seines Namens willen für uns und in uns handelt! Wie wunderbar ist es auch, dass sein Ruhm am hellsten erglänzt und überhaupt auch nur gesehen werden kann in jenem gewaltigen Plan, den sein Herz entworfen hat und in dem Er sich „als ein gerechter Gott und als Heiland“ offenbart! Wunderbarer Name für einen armen, verlorenen Sünder! Er enthält alles, was ein solcher für Zeit und Ewigkeit braucht. Er begegnet dem Verlorenen in der Tiefe seiner Not als einem, der die Hölle verdient hat, trägt ihn durch die vielen Kämpfe, Prüfungen und Schmerzen der Wüste und führt ihn endlich in jene helle und gesegnete Welt, wo Sünde und Schmerz niemals hinkommen können.