Behandelter Abschnitt 4. Mose 9,15-18
Beachten der Wolke und ihrer Bewegungen
Doch wir müssen jetzt das Passah in der Wüste mit seinen Belehrungen verlassen, um uns noch kurz dem letzten Abschnitt unseres Kapitels zuzuwenden. Wir sehen da ein zahlreiches Heer von Männern, Frauen und Kindern, das durch eine Wüste zog, „wo es keinen Weg gab“, ein Volk, das ohne Kompass und ohne menschlichen Führer eine traurige, öde, ungeheure Wüste durchwanderte. Da waren Millionen von Menschen, die ohne Kenntnis des Weges, den sie einzuschlagen hatten, vorwärts gingen und die im Blick auf ihre Leitung, ihre Nahrung und alles andere völlig von Gott abhängig waren – ein hilfloses Heer von Pilgern. Sie konnten für den nächsten Tag keine Pläne machen. Wenn sie lagerten, wussten sie nicht, wann sie wieder aufbrechen sollten, und wenn sie wanderten, wussten sie nicht, wann oder wo sie Halt machen sollten. Ihr Leben trug das Kennzeichen täglicher und stündlicher Abhängigkeit. Leitung und Führung mussten sie von oben erwarten.
Es wäre unmöglich, sich ein schöneres Bild völliger Abhängigkeit von der göttlichen Leitung und von der Unterwerfung unter diese Leitung zu denken, als das, was uns in diesen Versen vor Augen gestellt wird. Es gab keine Fußspuren, keinen Grenzstein in dieser „großen und schrecklichen Wüste“. Es war daher unnütz, eine Leitung bei denen zu suchen, die die Wüste früher schon durchzogen hatten. Für jeden Schritt des Weges waren sie auf Gott angewiesen. Sie mussten beständig auf ihn warten. Für ein nicht unterworfenes Gemüt, für einen ungebrochenen Willen ist so etwas unerträglich; für eine Seele aber, die Gott kennt, die ihn liebt, ihm vertraut, in ihm sich freut, kann nichts segensreicher sein.
Hier liegt der Kern der ganzen Sache. Wenn Gott gekannt und geliebt wird, wenn man ihm vertraut, dann hat das Herz an der völligen Abhängigkeit von ihm seine Freude; wenn aber nicht, so wird diese Abhängigkeit unerträglich sein.
Knechtschaft und Freiheit
Der nicht wiedergeborene Mensch hält sich gern für unabhängig und frei. Er glaubt gern, er könnte tun, was er wolle, gehen, wohin er wolle, und sagen, was er wolle. Aber welche Täuschung! Der Mensch ist nicht frei. Er ist der Sklave Satans, der den natürlichen Menschen, den unbekehrten, unbußfertigen Menschen, in schrecklicher Knechtschaft hält. Er hat ihm Hände und Füße mit Ketten und Fesseln gebunden, die allerdings wegen der Vergoldung, mit der er sie so kunstvoll zu bedecken versteht, nicht in ihrem eigenen Charakter erkannt werden. Satan regiert den Menschen durch seine Lüste, Leidenschaften und Vergnügungen. Er erzeugt in dem Herzen Wünsche, die er dann durch die Dinge dieser Welt befriedigt, und der Mensch bildet sich ein, er sei frei, weil er seine Wünsche befriedigen kann. Welch eine traurige Täuschung!
Früher oder später wird sie sich als solche erweisen. Es gibt keine Freiheit, außer derjenigen, mit der Christus seine Erlösten frei macht. Er konnte sagen: „Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Und weiter: „Wenn nun der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich frei sein“ (Joh 8,32.36).
Das ist wahre Freiheit. Es ist die Freiheit, die die neue Natur findet, indem sie im Geist wandelt und das tut, was Gott wohlgefällig ist. Der Dienst des Herrn ist vollkommene Freiheit; aber dieser Dienst schließt einfältige Abhängigkeit von dem lebendigen Gott ein. So war es mit dem einzigen wahren und vollkommenen Diener, der auf dieser Erde gelebt hat. Er war immer abhängig. Jede Bewegung, jedes Wort, alles, was Er tat, und alles, was Er unterließ, war die Frucht völliger Abhängigkeit von Gott und unbedingter Unterwerfung unter Gott. Er ging, wenn Gott ihn gehen hieß, und Er stand still, wenn Gott es so wollte. Er sprach oder schwieg, je nachdem es der Wille Gottes erforderte.
So war Jesus, als Er in dieser Welt lebte; und wir als Teilhaber seiner Natur und seines Lebens, als solche, die seinen Geist in sich tragen, sind berufen, zu leben, wie Er gelebt hat, von Tag zu Tag ein Leben einfacher Abhängigkeit von Gott zu führen. Von einer ganz bestimmten Seite dieses Lebens der Abhängigkeit finden wir ein schönes Bild am Schluss unseres Kapitels: Das Gottesvolk Israel, das Lager in der Wüste, das Heer von Pilgern, folgte treu den Bewegungen der Wolke. Um sich leiten lassen zu können, hatten sie nur nach oben zu blicken. Und gerade das ist es, was der Mensch zu tun hat. Er wurde so gebildet, dass er sein Angesicht aufwärts wenden kann – im Gegensatz zum Tier, das so geschaffen ist, dass es nach unten sieht7. Israel konnte sich nichts selber vornehmen. Nie konnten sie sagen: „Morgen wollen wir an diesen oder jenen Ort gehen.“ Sie waren völlig von der Bewegung der Wolke abhängig.
Ebenso sollte es mit uns sein. Wir gehen durch eine öde Wüste, durch eine Wildnis in geistlichem Sinn. Es ist kein einziger Weg da. Wir wüssten nicht, wie wir leben oder wohin wir gehen sollten, wenn wir nicht den wichtigen und weit greifenden Ausspruch unseres Herrn hätten: „Ich bin der Weg“ (Joh 14,6). Das ist die göttliche, unfehlbare Leitung. Wir haben ihm nachzufolgen. „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12). Das ist eine lebendige Leitung. Es geht nicht darum, nach gewissen Regeln und Verordnungen zu handeln. Es geht darum, einem lebendigen Christus nachzufolgen, zu wandeln, wie Er gewandelt hat, zu tun, was Er tat, sein Beispiel in allen Dingen nachzuahmen. Das ist christliches Leben, christliches Handeln. Es besteht darin, dass wir unsere Augen fest auf Jesus gerichtet halten, dass die Züge seines Charakters unserer neuen Natur aufgedrückt sind und dass wir sie in unserem täglichen Leben widerspiegeln.
Das schließt allerdings die vollständige Aufgabe unseres eigenen Willens und unserer eigenen Pläne ein. Wir müssen der Wolke folgen. Wir müssen immer warten, allein auf Gott warten. Wir können nicht sagen: „Morgen oder in der nächsten Woche werden wir da oder dorthin gehen, dies oder das tun.“ Alle unsere Handlungen müssen unter die ordnende Kraft dieses einen gebietenden Ausspruchs gestellt werden, der leider von uns oft so leichtfertig geschrieben oder ausgesprochen wird: „Wenn der Herr will.“
Gottes Wille – oder unser Eigenwille
Möchten wir dies alles besser verstehen! Wie oft bilden wir uns ein und behaupten zuversichtlich, dass die Wolke sich gerade in der Richtung bewege, die unserer Neigung entspricht! Wir wünschen etwas zu tun oder einen bestimmten Weg einzuschlagen und suchen uns dann zu überzeugen, dass unser Wille der Wille Gottes sei. Anstatt von Gott geleitet zu werden, verführen wir uns auf diese Weise selbst. Unser Wille ist ungebrochen, und daher können wir nicht geleitet werden; denn das wahre Geheimnis, recht geführt, von Gott geführt zu werden, besteht darin, dass wir ihm unseren Willen vollständig unterwerfen. „Er leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg“ (Ps 25,9). Und ferner: „Mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten“ (Ps 32,8). Möchten wir besonders über die Ermahnung nachdenken: „Seid nicht wie ein Ross, wie ein Maultier, das keinen Verstand hat; mit Zaum und Zügel, ihrem Schmuck, musst du sie bändigen, sonst nahen sie dir nicht“ (Ps 32,9). Wenn wir nach oben sehen, um auf das „Auge Gottes“ zu achten, so werden wir „Zaum und Zügel“ nicht nötig haben. Aber hier liegt der entscheidende Grund dafür, dass wir so traurig versagen. Wir leben nicht genug in der Nähe Gottes, um den Wink seiner Augen zu erkennen. Unser eigener Wille handelt. Wir wünschen, unsere eigenen Wege zu gehen, und darum müssen wir die bitteren Früchte davon ernten.
Aber unser Gott ist so gnädig und so geduldig. Er will seine schwachen, irrenden Kinder lehren und führen. Ihm wird die Sorge für uns nicht zu viel. Er beschäftigt sich ständig mit uns, damit wir vor unseren eigenen Wegen, die voller Dornen und Disteln sind, bewahrt werden, und damit wir seine Wege gehen, die voll Lieblichkeit und Frieden sind (Spr 3,17).
Es gibt in dieser ganzen Welt nichts Gesegneteres als ein Leben in ständiger Abhängigkeit von Gott, nichts Gesegneteres, als in allem auf ihn zu warten und sich an ihn zu halten. Alle unsere Quellen in ihm zu haben, ist das wahre Geheimnis des Friedens und einer wirklichen, heiligen Unabhängigkeit von jedem Geschöpf. Die Seele, die wirklich sagen kann: „Alle meine Quellen sind in dir“ (Ps 87,7), ist über alles Vertrauen auf das Geschaffene, über menschliche Hoffnungen und irdische Erwartungen erhaben. Wir wollen damit nicht sagen, dass Gott sich nicht seiner Geschöpfe bedient, um uns beizustehen. Aber wenn wir uns auf das Geschöpf und nicht auf ihn stützen, dann werden wir sehr schnell Dürre und Mangel spüren. Es ist ein sehr großer Unterschied, ob Gott ein Geschöpf gebraucht, um uns zu segnen, oder ob wir uns auf das Geschöpf stützen und somit Gott ausschließen. In dem einen Fall werden wir gesegnet, und Er wird verherrlicht; in dem anderen Fall werden wir enttäuscht, und Er wird verunehrt.
Es ist gut, wenn wir diesen Unterschied tief und ernst erwägen. Wir bilden uns oft ein, dass wir uns auf Gott stützen und auf ihn sehen, während wir in Wirklichkeit, wenn wir den Dingen nur auf den Grund gehen und uns in der Gegenwart Gottes richten, in uns erschreckend viel von dem „Sauerteig“ des Vertrauens auf das Geschöpf finden würden. Wir reden oft davon, dass wir durch den Glauben leben und einzig auf Gott vertrauen, während wir gleichzeitig – wenn wir uns aufrichtig prüfen würden – ein großes Maß an Abhängigkeit von bestimmten Umständen, von Rücksicht auf in Wirklichkeit unwichtige Dinge bei uns finden würden.
Seien wir da sehr aufmerksam! Achten wir darauf, dass wir allein auf den lebendigen Gott sehen, und nicht auf Menschen! Warten wir geduldig und beständig auf ihn! Sind wir wegen irgendetwas in Verlegenheit, dann lasst uns einfach auf ihn blicken! Wenn wir nicht wissen, welchen Weg wir einschlagen sollen, dann lasst uns daran denken, dass Er gesagt hat: „Ich bin der Weg.“ Lasst uns ihm folgen. Er wird alles klar und gewiss machen. Es kann keine Finsternis, keine Verwirrung, keine Ungewissheit geben, wenn wir ihm nachfolgen; denn Er hat gesagt: „Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln.“ Wenn wir daher in Finsternis sind, so ist das nur ein Beweis, dass wir ihm nicht nachfolgen.
Doch könnte jemand, der diese Zeilen liest, sagen: „Ganz gut! Aber dennoch weiß ich nicht, welchen Weg ich zu gehen habe. Ich weiß wirklich nicht, wohin ich mich wenden oder welchen Schritt ich tun soll.“ Den, der so redet, möchte ich fragen: „Folgst du Jesu nach?“ Wenn du es tust, kannst du nicht unsicher und verwirrt sein. Folgst du der Wolke nach? Dann ist dein Weg so klar, wie Gott ihn nur machen kann. Verlegenheit oder Ungewissheit ist sehr oft das Ergebnis der Wirksamkeit des eigenen Willens. Wir sind geneigt, etwas zu tun, was durchaus nicht nach dem Willen Gottes ist, irgendwohin zu gehen, wohin wir nach dem Willen Gottes nicht gehen sollten.
Wir beten deswegen und erhalten keine Antwort. Woher kommt das? Einfach daher, weil Gott will, dass wir still sein und da bleiben sollen, wo wir gerade sind. Anstatt uns über das, was wir tun sollen, den Kopf zu zerbrechen und unsere Seele zu quälen, lasst uns nichts tun und einfach auf Gott warten. Das ist das Geheimnis des Friedens und der ruhigen Erhabenheit. Wenn ein Israelit in der Wüste es sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, einen Schritt unabhängig von dem Herrn zu tun, wenn er sich vorgenommen hätte, aufzubrechen, solange die Wolke ruhte, oder stillzustehen, während die Wolke sich bewegte – wir können uns die Folgen leicht denken. Aber so wird es auch immer mit uns sein. Wenn wir gehen, während wir ruhen sollten, dann werden wir Gottes Gegenwart nicht haben. „Nach dem Befehl des Herrn brachen die Kinder Israel auf, und nach dem Befehl des Herrn lagerten sie“ (V. 18).
Sie mussten fortwährend auf Gott warten – und das ist die gesegnetste Stellung, die ein Mensch einnehmen kann; aber diese muss eingenommen werden, bevor man ihren Segen genießen kann. Es ist eine Wirklichkeit, die man kennen muss, nicht nur eine Theorie, über die man spricht.
7 Das griechische Wort für Mensch (anthropos) ist von einem Zeitwort abgeleitet, das bedeutet: aufblicken, das Gesicht aufwärts wenden.↩︎