Behandelter Abschnitt 4. Mose 9,9-12
Das Passah im zweiten Monat
„Und der Herr redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich: Wenn irgendjemand von euch oder von euren Geschlechtern unrein ist wegen einer Leiche oder auf einem fernen Weg ist, so soll er dem Herrn das Passah feiern; im zweiten Monat, am vierzehnten Tag, zwischen den zwei Abenden, sollen sie es feiern; mit Ungesäuertem und bitteren Kräutern sollen sie es essen“ (V. 9–11).
Es gibt zwei große Grundwahrheiten, die in dem Passah dargestellt werden: die Erlösung und die Einheit des Volkes Gottes. Diese Wahrheiten sind unveränderlich. Nichts kann sie jemals ungültig machen. Darum war die eindrucksvolle Verordnung, die diese Wahrheiten so deutlich lebhaft abbildete, immer verbindlich. Die Umstände durften nicht stören. Todesfälle oder große Entfernungen sollten sie nicht unterbrechen. Jedes Glied der Versammlung hatte die Feier dieses Festes so dringend nötig, dass eine besondere Vorsorge für die getroffen wurde, die nicht imstande waren, es nach der vorgeschriebenen Ordnung zu halten. Solche Personen sollten es feiern „am vierzehnten Tag des zweiten Monats“. Das war die Vorsorge der Gnade für alle Fälle unvermeidlicher Verunreinigung oder für den Fall großer Entfernung.
In 2. Chronika 30 lesen wir, dass Hiskia und die Gemeinde von dieser gnadenreichen Vorsorge Gebrauch machten. „Und viel Volk versammelte sich nach Jerusalem, um das Fest der ungesäuerten Brote im zweiten Monat zu feiern, eine sehr große Versammlung . . . Und man schlachtete das Passah am Vierzehnten des zweiten Monats“ (V. 13.15).
Die Gnade Gottes kann uns in unserer größten Schwachheit begegnen, wenn diese Schwachheit nur gefühlt und bekannt wird5. Aber möge diese wertvolle und trostreiche Wahrheit uns nicht verleiten, mit Sünde oder Verunreinigung zu spielen! Obwohl die Gnade statt des ersten Monats den zweiten gestattete, erlaubte sie deswegen doch keinerlei Leichtfertigkeit hinsichtlich der Gebräuche und Zeremonien des Festes. „Das ungesäuerte Brot und die bitteren Kräuter“ mussten immer da sein; von dem Opferlamm durfte nichts übrig gelassen werden bis an den Morgen, noch durfte ein Bein an ihm zerbrochen werden. Gott kann nicht zulassen, dass der Maßstab der Wahrheit oder der Heiligkeit irgendwie herabgesetzt wird. Aus Schwachheit, aus Mangel oder in Frage der Macht der Umstände mag der Mensch, was die Zeit angeht, zurückgeblieben sein; aber er darf nicht hinter dem göttlichen Maßstab zurückbleiben. Die Gnade gestattete das Erste, die Heiligkeit verbietet das Zweite; und wenn irgendjemand sich angemaßt hätte, auf Grund der Gnade mit der Heiligkeit nach Belieben zu schalten, so wäre er aus der Gemeinde ausgerottet worden.
Gnade vermindert niemals den göttlichen Maßstab
Doch was können wir aus den Verordnungen über die Feier des Passah im zweiten Monat lernen? Warum wurde Israel so ausdrücklich eingeschärft, bei dieser Feier nichts, keine einzige Zeremonie, wegzulassen? Warum gehen in 4. Mose 9 die Anweisungen für den zweiten Monat viel mehr ins Einzelne als die für den ersten? Gewiss nicht deshalb, weil die Verordnung in dem einen Fall wichtiger gewesen wäre als in dem anderen, und auch nicht, weil die Ordnung in beiden Fällen irgendwie verschieden gewesen wäre! Vielmehr lehrt diese Tatsache uns ganz deutlich, dass wir in den Dingen Gottes niemals wegen der Fehler und Schwachheiten des Volkes Gottes einen geringeren Maßstab anlegen dürfen, dass wir vielmehr – gerade wegen dieser Fehler und Schwachheiten – besondere Sorge zu tragen haben, den Maßstab in seiner ganzen göttlichen Vollkommenheit zu wahren. Zweifellos sollte ein tiefes Empfinden für den Mangel da sein – je tiefer, umso besser; aber die Wahrheit Gottes darf nicht aufgegeben werden. Wir können immer zuversichtlich auf die Hilfsmittel der Gnade Gottes rechnen, solange wir mit unerschütterlicher Festigkeit den Maßstab der Wahrheit Gottes zu wahren suchen.
Lasst uns dies immer beherzigen! Wir sind einerseits in Gefahr, die Tatsache zu vergessen, dass der Verfall eingetreten, ja, dass große Untreue, dass Sünde vorhanden ist, und andererseits sind wir geneigt, angesichts des Verfalls die unfehlbare Treue Gottes zu vergessen, die trotz allem bleibt. Die Versammlung hat gefehlt und befindet sich in vollständigem Verfall, und wir haben persönlich gefehlt und zu dem Verfall beigetragen. Wir sollten vor unserem Gott immer das tiefe Bewusstsein davon haben, wie traurig und schändlich wir uns in dem Haus Gottes betragen haben. Wir würden unser Versagen noch weit verschlimmern, wenn wir je vergessen würden, dass wir gefehlt haben. Tiefe Demut und ein völlig gebrochener Geist geziemen uns, wenn wir hieran denken. Solche inneren Gefühle und Übungen werden in einem bescheidenen und demütigen Betragen ihren Ausdruck finden. „Doch der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt, die sein sind; und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit“ (2Tim 2,19). Hier ist die Hilfsquelle des Gläubigen mitten im Verfall der Christenheit. Gott macht nie einen Fehler, verändert sich nie; wir aber haben einfach von der Ungerechtigkeit abzustehen und uns an ihn zu klammern. Wir sollen tun, was recht ist, und die Folgen ihm überlassen.
Nachlässigkeit gegenüber dem Passah
Das sind in erster Linie Belehrungen für die Wüste, Belehrungen für die heutigen Tage, Belehrungen für uns. In der Wüste tritt die Schwachheit des Menschen so besonders deutlich zutage; hier aber werden auch die unendlichen Hilfsquellen der Gnade Gottes entfaltet. Wiederholen wir es jedoch noch einmal – und möchte es sich tief und unauslöschlich in unsere Herzen einprägen: Die reiche Vorsorge der Gnade und Barmherzigkeit Gottes gibt durchaus keinerlei Befugnis, den Maßstab der göttlichen Wahrheit herabzusetzen. Hätte ein Israelit eine Verunreinigung oder zu große räumliche Entfernung als Entschuldigung dafür vorgebracht, das Passah nicht oder anders zu feiern, als Gott es verordnet hatte, dann wäre er sicherlich aus der Gemeinde ausgerottet worden. Und so ist es auch mit uns. Wenn wir irgendeine Wahrheit Gottes vernachlässigen, weil der Verfall eingetreten ist, wenn wir aus lauter Unglauben des Herzens den Maßstab Gottes aufgeben und den göttlichen Boden verlassen, wenn wir den Zustand der Dinge um uns her zum Vorwand nehmen, um uns der Autorität der göttlichen Wahrheit über das Gewissen oder ihres bildenden Einflusses auf unser Betragen und unseren Charakter zu entziehen, so ist es offensichtlich, dass unsere Gemeinschaft unterbrochen sein muss.6
5 Der Gegensatz zwischen der Handlungsweise Hiskias in 2. Chronika 30 und Jerobeams in 1. Könige 12,32 ist bemerkenswert. Der eine bediente sich der Vorsorge der Gnade Gottes, der andere folgte seinen eigenen Einfällen. Der zweite Monat wurde von Gott erlaubt, der achte wurde vom Menschen erfunden. Die Vorsorge Gottes, die den Bedürfnissen des Menschen entspricht, und menschliche Erfindungen, die sich dem Wort Gottes entgegenstellen, sind zwei gänzlich verschiedene Dinge.↩︎
6 Es sei hier bemerkt, dass das Ausrotten eines Gliedes aus der Versammlung Israels der zeitweiligen Aufhebung der Gemeinschaft mit einem Gläubigen in Folge nicht gerichteter Sünde entspricht.↩︎