Behandelter Abschnitt 3. Mose 11,43-45
Die Heiligkeit Gottes und die Heiligkeit des Gläubigen
Doch nicht nur bezüglich des Essens wurde das Volk Gottes so sorgfältig vor Unreinem bewahrt. Schon bloßes Anrühren war verboten (siehe V. 8.24.26–28.31–40). Es war für ein Glied Israels unmöglich, etwas Unreines zu berühren, ohne sich zu beflecken. Dieser Grundsatz wird sowohl im Gesetz als auch in den Propheten ausführlich entwickelt (vgl. Hag 2,11-13). Der Herr wollte, dass sein Volk in allem heilig ist. Sie durften Unreines weder essen noch anrühren. „Macht euch selbst nicht zum Gräuel durch alles kriechende Gewimmel, und verunreinigt euch nicht durch sie, so dass ihr dadurch unrein werdet“ (V. 43). Und dann folgt die ernste, überwältigende Begründung für diese sorgfältige Absonderung: „Denn ich bin der Herr, euer Gott; so heiligt euch und seid heilig, denn ich bin heilig.
Und ihr sollt euch selbst nicht verunreinigen durch alles Gewimmel, das sich auf der Erde regt. Denn ich bin der Herr, der euch aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat, um euer Gott zu sein: So seid heilig, denn ich bin heilig“ (V. 44.45).
Man sieht deutlich, dass die persönliche Heiligkeit des Volkes Gottes sowie seine totale Absonderung von allem Unreinen aus seinem Verhältnis zu dem Herrn und nicht aus dem Grundsatz entspringt „Bleib für dich und nahe mir nicht, denn ich bin dir heilig!“ (Jes 65,5). Nein, es heißt einfach: „Gott ist heilig“, und darum müssen alle, die mit ihm in Verbindung gebracht sind, ebenfalls heilig sein. Es ist in jeder Beziehung Gottes würdig, dass sein Volk heilig ist. „Deine Zeugnisse sind sehr zuverlässig. Deinem Haus geziemt Heiligkeit, Herr, auf immerdar“ (Ps 93,5). Was könnte dem Haus des Herrn anderes geziemen als Heiligkeit? Wenn jemand einen Israeliten jener Tage gefragt hätte: „Warum hast du eine solche Abneigung gegen ein kriechendes Tier?“, so hätte er erwidert: „Der Herr ist heilig und ich bin sein Eigentum. Er hat gesagt: Rühr es nicht an!“ So sollte auch jetzt, wenn ein Christ gefragt wird, weshalb er sich von den mancherlei Dingen fernhält, an denen die Menschen dieser Welt teilnehmen, einfach seine Antwort sein: „Mein Vater ist heilig.“ Das ist die wahre Grundlage persönlicher Heiligkeit.
Je mehr wir den göttlichen Charakter betrachten und je mehr wir in Christus durch die Wirkung des Heiligen Geistes in die Kraft unserer Beziehungen zu Gott eintreten, umso heiliger werden wir sein. Es kann in der Stellung der Heiligkeit, in die der Gläubige gebracht ist, keinen Fortschritt geben. Aber in der Verwirklichung und praktischen Darstellung dieser Heiligkeit muss sich ein Fortschritt bemerkbar machen. Diese beiden Dinge dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Alle Gläubigen befinden sich in derselben Stellung der Heiligkeit oder der Heiligung, aber das Maß der Verwirklichung kann sehr verschieden sein. Das ist leicht zu verstehen. Die Stellung ist eine Folge der Tatsache, dass wir Gott nahe gebracht sind durch das Kreuz, während das praktische Maß unserer Heiligkeit davon abhängt, wie nahe wir durch die Kraft des Heiligen Geistes bei ihm bleiben. Nicht dass jemand sich einbilden sollte, einen höheren Grad persönlicher Heiligkeit zu besitzen oder besser zu sein als seine Mitmenschen. Aber wenn Gott in seiner Gnade sich bis zu unserem niedrigen Zustand herablässt und uns, in Verbindung mit Christus, bis zu der heiligen Höhe seiner Gegenwart erhebt, hat Er dann nicht das Recht, zu bestimmen, wie Er uns da haben will, eben weil wir in seine Nähe gebracht sind? Und weiter, sind wir nicht verpflichtet, diese durch ihn bestimmten Charakterzüge aufrechtzuerhalten? Machen wir uns, wenn wir dies tun, einer Anmaßung schuldig? War es eine Anmaßung, wenn ein Israelit sich weigerte, ein „kriechendes Tier“ anzurühren? Nein, es wäre im Gegenteil eine Anmaßung gewesen, wenn er es angerührt hätte. Wohl mochte er nicht imstande sein, einem unbeschnittenen Fremden die Ursache seines Tuns begreiflich und anerkennenswert zu machen, aber das war auch seine Aufgabe nicht.
Der Herr hatte gesagt: „Rührt nicht an!“ – nicht weil ein Israelit in sich selbst heiliger als ein Fremder war, sondern weil der Herr heilig und Israel sein Eigentum war. Auge und Herz eines beschnittenen Jüngers waren nötig, um das Reine von dem Unreinen unterscheiden zu können. Ein Fremder kannte keinen Unterschied. So wird es stets sein. Die Weisheit kann nur von ihren Kindern gerechtfertigt und in ihren himmlischen Wegen gebilligt werden.
Von alten Anordnungen zu neuen Weiten
Bevor wir die Betrachtung unseres Kapitels schließen, möchten wir noch zum Vergleich Apostelgeschichte 10,11-16 anführen. Wie seltsam muss es einem Mann, der von frühester Jugend an in den mosaischen Gebräuchen unterwiesen worden war, vorgekommen sein, ein Gefäß aus dem Himmel herabkommen zu sehen, in „dem allerlei vierfüßige und kriechende Tiere der Erde waren und Vögel des Himmels“, und wie wunderbar muss ihn die Stimme berührt haben, die ihm zurief: „Steh auf, Petrus, schlachte und iss!“ Von gespaltenen Hufen und anderen Merkmalen war keine Rede. Das war jetzt nicht mehr nötig. Das Gefäß war mit seinem Inhalt aus dem Himmel gekommen. Das war genug.
Der Jude mochte sich in die engen Grenzen des jüdischen Zeremonialgesetzes einschließen und ausrufen: „Keineswegs, Herr! Denn niemals habe ich irgendetwas Gemeines oder Unreines gegessen“, aber der Strom der göttlichen Gnade ergoss sich jetzt über alle diese Schranken hinweg, um in seinen gewaltigen Bereich „allerlei“ Gegenstände einzuschließen und sie in der Kraft der kostbaren Worte „Was Gott gereinigt hat, halte du nicht für gemein!“ gen Himmel emporzutragen. Wenn Gott gereinigt hatte, so war es ohne Bedeutung, was in dem Gefäß war. Derselbe Gott, der das dritte Buch Mose gegeben hatte, war bemüht, die Gedanken seines Dieners über die durch dieses Buch errichteten Schranken hinaus bis zu der Herrlichkeit der himmlischen Gnade zu erheben. Er wollte ihn belehren, dass die wahre, durch den Himmel geforderte Reinheit nichts mehr mit Wiederkäuen und gespaltenen Hufen oder mit anderen zeremoniellen Merkmalen zu schaffen hat. Sie besteht in dem Gewaschensein durch das Blut des Lammes, das von aller Sünde reinigt und jeden Gläubigen rein genug macht, um den Boden der himmlischen Höfe betreten zu können.
Das war eine herrliche, aber für einen Juden schwierige Lektion, eine göttliche Unterweisung, vor deren Strahlen die Schatten der alten Haushaltung weichen mussten. Die Hand der unumschränkten Gnade Gottes hatte die Tür des Reiches aufgeschlossen, jedoch nicht um etwas Unreines einzulassen. Das war unmöglich. Nichts Unreines kann in den Himmel eingehen. Aber nun konnte ein gespaltener Huf nicht länger der Prüfstein sein, sondern es handelte sich um das, „was Gott gereinigt hat“. Wenn Gott jemand reinigt, so kann er nicht anders als rein sein.
Petrus stand auf dem Punkt, zu den Heiden gesandt zu werden, um ihnen das Reich aufzuschließen, wie er es bereits den Juden aufgeschlossen hatte, und sein jüdisches Herz musste weiter werden. Er musste über die dunklen Schatten eines verflossenen Zeitalters in das Mittagslicht erhoben werden, das kraft des vollbrachten Opfers aus dem geöffneten Himmel hernieder strahlte. Er musste aus dem engen Bett jüdischer Vorurteile herausgenommen und in den mächtigen Gnadenstrom versetzt werden, der sich jetzt in seiner ganzen Fülle über die verlorene Welt ergießen sollte. Auch hatte er zu lernen, dass der Maßstab, an dem wahre Reinheit gemessen werden muss, nicht länger fleischlich und irdisch, sondern geistlich und himmlisch war. Ja, wir können mit Recht sagen, dass es herrliche Lehren waren, die der Apostel der Beschneidung auf dem Hausdach Simons, des Gerbers, zu lernen hatte. Sie waren geeignet, ein Herz, das inmitten der einschränkenden Einflüsse des jüdischen Systems erzogen worden war, weit zu machen und zu erheben. Wir preisen den Herrn für diese kostbaren Unterweisungen. Wir preisen ihn für den weiten und reichen Platz, auf den Er uns durch das Blut Christi gestellt hat. Wir preisen ihn, dass wir nicht länger eingeengt sind durch ein „Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht“ (Kol 2,21), sondern dass, wie sein Wort uns versichert, „jedes Geschöpf Gottes gut und nichts verwerflich ist, wenn es mit Danksagung genommen wird; denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet“ (1Tim 4,4.5).