Behandelter Abschnitt 2. Mose 4,27-31
Mose und Aaron
Die eben genannten Wahrheiten ergeben sich aus dem Bild, das uns in der Verbindung Moses mit Zippora vor Augen gestellt ist. Doch wir nehmen jetzt eine Zeit lang Abschied von der „Wüste“, ohne jedoch die dort empfangenen Unterweisungen und Eindrücke zu vergessen, die für jeden Diener Christi und für jeden Gesandten des lebendigen Gottes von so wesentlicher Bedeutung sind. Alle, die in irgendeiner Weise dienen (sei es in der Evangelisation oder in den verschiedenen Dienstverrichtungen des Hauses Gottes, d. i. der Versammlung) und in ihrem Dienst gesegnet sein wollen, werden das Bedürfnis fühlen, sich diese Unterweisungen tief einzuprägen, die Mose am Fuß des Berges Horeb und „unterwegs, in der Herberge“ empfing.
Würde man diesen Dingen die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdienen, so würde man nicht so viele Personen in Dienstverrichtungen sehen, für die sie nicht von Gott berufen sind. Möchte doch jeder, der sich aufmacht, um zu predigen, zu lehren, zu ermahnen oder in irgendeiner Weise zu dienen, ernsthaft untersuchen, ob er dazu von Gott ausgerüstet, belehrt und gesandt ist! Ohne das Wirken Gottes wird sein Werk weder von Gott anerkannt noch für die Menschen gesegnet sein; und je schneller er sich in diesem Fall zurückzieht, umso besser sowohl für ihn selbst als auch für diejenigen, denen er es zugemutet hatte, ihn anzuhören. Ein von Menschen verordneter oder nur auf eigener Sendung beruhender Dienst ist innerhalb der Versammlung Gottes immer fehl am Platz.
Wer hier dienen will, muss von Gott ausgerüstet, von Gott belehrt und von Gott gesandt sein. „Und der Herr sprach zu Aaron: Geh hin, Mose entgegen in die Wüste. Und er ging hin und traf ihn am Berg Gottes und küsste ihn. Und Mose berichtete Aaron alle Wort des Herrn, der ihn gesandt hatte, und alle Zeichen, die er ihm geboten hatte“ (V. 27.28). Diese Szene brüderlicher Liebe und Eintracht bildet einen auffallenden Gegensatz zu verschiedenen Auftritten, die später auf ihrer Wanderung durch die Wüste zwischen diesen beiden Männern stattgefunden haben. Vierzig Jahre Wüstenleben können große Veränderungen bei Menschen und Dingen hervorrufen. Doch ist es schön, einen Augenblick bei den ersten Tagen der Laufbahn eines Gläubigen zu verweilen, bevor die ernste Wirklichkeit des Wüstenlebens die herzliche Zuneigung gehemmt hat, bevor Betrug, Verführung und Heuchelei das Vertrauen geschwächt und das ganze moralische Sein den Einflüssen einer argwöhnischen Neigung preisgegeben haben.
Dass solche Resultate oft durch Jahre der Erfahrung hervorgebracht worden sind, ist leider nur zu wahr. Glücklich derjenige, der mit geöffneten Augen und im klaren Licht erkennt, was die menschliche Natur ist, und dennoch seinen Zeitgenossen durch die Kraft jener Gnade dienen kann, die von dem Herzen Gottes ausgeht. Wer hat je die Tiefen und Ränke des menschlichen Herzens so erkannt, wie Jesus sie erkannte? „Weil er alle kannte und nicht nötig hatte, dass jemand Zeugnis gebe von dem Menschen; denn er selbst wusste, was in dem Menschen war“ (Joh 2,24.25). Er konnte sich weder dem Menschen anvertrauen noch seinem Bekenntnis Vertrauen schenken. Und dennoch, wer zeigte je eine solche Fülle von Gnade wie Er? Wer solche Liebe, solche Zärtlichkeit, solches Mitleiden, solches Mitgefühl? Mit einem Herzen, das jeden verstand, konnte Er für einen jeden fühlen. Er ließ sich durch seine vollkommene Erkenntnis der Gottlosigkeit des Menschen nicht fernhalten von dessen Elend. Er ging umher, wohltuend und heilend. Warum? Etwa deshalb, weil Er meinte, dass alle, die sich um ihn drängten, aufrichtig seien? Nein, sondern weil Gott mit ihm war (Apg 10,38). Er ist unser Vorbild. Lasst uns ihn nachahmen, wenn wir auch, indem wir es tun, bei jedem Schritt gezwungen sein mögen, unser eigenes Ich mit allen seinen Interessen zu verleugnen.
Wenn wir in den Fußspuren des Herrn Jesus wandeln, wenn wir seine Gesinnung in uns aufnehmen, wenn wir sagen können: „Das Leben ist für mich Christus“, dann werden wir bei klarer Erkenntnis darüber, was die Welt ist und was wir von dem Menschen zu erwarten haben, durch die Gnade fähig sein, Christus in unserem Leben zu offenbaren. Die Triebfedern, die uns dann bewegen, und die Inhalte unseres Glaubens, die uns beleben, sind droben, wo Christus ist, der derselbe ist „gestern und heute und in Ewigkeit“ (Heb 13,8). Hier fand auch der Diener, aus dessen Geschichte wir schon so viele ernste Unterweisungen geschöpft haben, Gnade und Kraft, um die mühevollen und wechselnden Szenen des Wüstenlebens durchstehen zu können. Und wir dürfen sicher behaupten, dass Mose am Ende von allem, ungeachtet der vierzigjährigen Übungen und Kämpfe, seinen Bruder mit derselben Wärme „auf dem Berg Hor“ (4Mo 20,25) umarmen konnte wie im Anfang, als er ihm am „Berg Gottes“ (2Mo 4,27) begegnete.
Freilich war das Zusammentreffen bei beiden Gelegenheiten sehr verschieden. Am „Berg Gottes“ begegneten und umarmten sich die beiden Brüder, um dann gemeinschaftlich den Weg ihrer göttlichen Sendung zu betreten. Auf dem „Berg Hor“ begegneten sie sich auf Befehl des Herrn damit Mose seinem Bruder wegen eines Vergehens, an dem er sich selbst beteiligt hatte, die priesterlichen Kleider ausziehe und ihn zu seinen Vätern versammelt sehen werde. Wie ernst und nahegehend! Die Umstände wechseln; die Menschen können sich voneinander abwenden; aber bei Gott ist keine Veränderung noch ein Schatten eines Wechsels (Jak 1,17). „Und Mose und Aaron gingen hin, und sie versammelten alle Ältesten der Kinder Israel. Und Aaron redete alle Worte, die der Herr zu Mose geredet hatte, und er tat die Zeichen vor den Augen des Volkes. Und das Volk glaubte; und als sie hörten, dass der Herr sich den Kindern Israel zugewandt, und dass er ihr Elend gesehen habe, da neigten sie sich und beteten an“ (V. 29–31).
Wenn die Hand Gottes zu wirken beginnt, muss jede Schranke fallen. Mose hatte gesagt: „Siehe, sie werden mir nicht glauben“; aber es handelte sich nicht darum, ob sie ihm, sondern ob sie Gott glauben würden. Wenn jemand befähigt ist, sich selbst als Boten Gottes zu betrachten, kann er wegen der Annahme seiner Botschaft völlig ruhig sein. Diese Gewissheit beeinträchtigt keineswegs seine liebevolle Sorgfalt im Blick auf die, an die er sich wendet. Im Gegenteil; sie bewahrt ihn vor jener Unruhe des Geistes, die nur dazu dienen würde, ihn zur Ablegung eines ruhigen, erhabenen und beharrlichen Zeugnisses unfähig zu machen. Der Bote Gottes sollte nie vergessen, wessen Botschaft er bringt. Wurde etwa der Engel Gabriel im Geringsten beunruhigt, als Zacharias die Frage an ihn stellte: „Woran soll ich dies erkennen“? Nein. Ruhig und würdevoll antwortete er: „Ich bin Gabriel, der vor Gott steht, und ich bin gesandt worden, zu dir zu reden und dir diese gute Botschaft zu verkünden“ (Lk 1,18.19). Der Engel steht vor dem zweifelnden Sterblichen in dem klaren Bewusstsein der Hoheit seiner Botschaft. Es ist, als ob er sagen wollte: „Wie? Du zweifelst, obwohl ich ein Bote aus der heiligen Gegenwart der Majestät des Himmels bin?“ Ebenso sollte, in seinem Maß, jeder Bote Gottes vorangehen und in diesem Geist seine Botschaft ausrichten.