Behandelter Abschnitt Apg 22+23
Die Erwähnung der hebräischen Mundart scheint mir den wahren Schlüssel zu den Unterschieden in diesem und den anderen Berichten von des Apostels Bekehrung zu liefern. Die Art der unterschiedlichen Darstellungsweise in diesem Buch stimmt nicht ganz mit der Methode in den Evangelien überein, wo gleichfalls dieselben Ereignisse oder Predigten unseres Herrn Jesus verschieden beschrieben werden entsprechend dem Charakter und Plan eines jeden. Doch liegt hier ein gemeinsames Prinzip zugrunde. Sogar in ein und demselben Buch können wir Unterschiede in den Absichten seiner Darstellung aufspüren. Das beobachten wir zum Beispiel in den drei vorgelegten Schilderungen von Paulus‘ Bekehrung: Erstens der geschichtliche Bericht, zweitens Paulus‘ Erklärung vor den Juden und drittens vor Juden und Nichtjuden vertreten durch den jüdischen Landpfleger und König Agrippa. Darin liegt der wahre Grund für die unterschiedlichen Darstellungsweisen, in denen die Einzelheiten vorgelegt werden. Wir brauchen nicht genauer auf die Einzelheiten eingehen.
Bei eingehender Untersuchung wird man ohnehin die Richtigkeit des Gesagten feststellen, nämlich dass der Apostel offensichtlich eine Sprache gebrauchte, welche die Aufmerksamkeit der Juden wecken musste, indem sie sich an ihre Gefühle wandte. Er sprach in der ihnen vertrauten Mundart und lieferte ihnen außerdem einen solchen Bericht von seiner Bekehrung, wie er ihn für ihre Empfindungen am wenigsten herausfordernd hielt. In deren Augen war eines unvergebbar; und gerade dies machte die Herrlichkeit seiner Apostelschaft aus und war die Aufgabe, für die Gott ihn erweckt hatte. So stellte der Apostel also mit den gnädigsten Absichten und in wärmster Liebe seinen Landsleuten nach dem Fleisch seine Bekehrung und ihre wunderbaren Begleitumstände vor. Er berichtete von seiner Begegnung mit Ananias, einem frommen Mann nach dem Gesetz, worauf er nachdrücklich hinwies, und von seiner „Entzückung“ im Tempel in Jerusalem während eines Gebets. Er erzählte ihnen aber auch das, was, wie er eigentlich hätte wissen müssen (und zwar umso mehr wegen seiner gründlichen Kenntnis der Gefühle eines Juden), sie bis zum Äußersten aufregen musste. Kurz gesagt: Er machte ihnen kund, dass der Herr ihn berufen und zu den Nationen gesandt hatte.
Das war genug. Als der Ton des Wortes „Nationen“ ihre Ohren erreichte, gerieten ihre sämtlichen Gefühle jüdischen Stolzes in Brand; und sofort schrieen alle: „Hinweg von der Erde mit einem solchen; denn es geziemte sich nicht, dass er am Leben blieb!“ (V. 22). Als sie so schrieen, ihre Kleider wegschleuderten und Staub in die Luft warfen, befahl der Oberste (Chiliarch), dass er in das Lager geführt wurde, um durch Geißelhiebe befragt zu werden. Damit setzte er sich ins Unrecht, denn Paulus war nicht nur ein Jude, sondern auch ein Bürger Roms. Zu diesem Ehrenrecht war er auf eine edlere Weise gelangt als der Lagerkommandant, der seine Fesselung befohlen hatte. Der Apostel legte ganz ruhig diese Tatsache dar. Ich möchte Paulus dafür nicht verurteilen, obwohl es manche Christen gibt, die dies tun. Er besaß eindeutig das Recht, jene, welche über das Einhalten der Gesetze wachten, vor eigenen Gesetzesübertretungen zu warnen. Weitere Mittel gebrauchte er nicht. Er sagte einfach, wie die Sachen standen.
Meiner Meinung nach ist es ungesunde Überempfindlichkeit und nicht wahre geistliche Weisheit, welche eine solche Handlungsweise des Apostels kritisiert. Jeder weiß, dass es leicht ist, in der Theorie ein Märtyrer zu sein; und jene, welche in der Theorie Märtyrer sind, erweisen sich selten als solche in der Praxis. Hier wurde ein Mann zur Folter bestimmt, und zwar einer der gesegnetsten Zeugen des Herrn aller Zeiten. Der Glaube gibt die Fähigkeit, alles klar zu erkennen. Sollten die Hüter des Gesetzes das Gesetz brechen? Der Glaube lehrt uns nirgendwo, Gefahren und Schwierigkeiten heraufzubeschwören, sondern den Pfad Christi in Frieden und Dankbarkeit zu gehen.
Der Herr hat seine Knechte nicht aufgerufen, diesen Weg zu verlassen. Ich wage sogar zu sagen, dass einige von uns wahrscheinlich sehr betroffen sind, wenn sie lesen, dass der Herr die Jünger auffordert, bei Verfolgungen von einer Stadt in die andere zu fliehen. Das ist offensichtlich kein Streben nach dem Märtyrertum, sondern das Gegenteil. Wenn demnach der Herr seinen Knechten in Judäa und, wie uns wohlbekannt ist, seinen Jüngern eine solche Anweisung gibt, dann scheint es mir, vorsichtig ausgedrückt, sehr gefährlich zu sein, ohne schwerwiegenden geistlichen Anlass sich auf die Gefahr einzulassen, Schuldlose zu verurteilen, die eigentlich das Recht auf unsere Hochachtung besitzen. Hier sehen wir nicht, dass der Heilige Geist irgendeine Warnung ausspricht. Beachten wir daher, dass damit nicht im Geringsten etwas von dem aufgehoben wird, was anderswo klar niedergeschrieben ist. Wir lasen, wie der Heilige Geist den Apostel warnte, als dieser in brennender Liebe auf seinem Weg fortgerissen wurde. Und wir erkennen leicht, dass der Heilige Geist ein unumschränktes Vorrecht hat, zu führen und zurechtzuweisen sogar im Fall eines Apostels.
Nichts dieser Art erkennen wir hier. Es war eine Angelegenheit, die der römische Hauptmann entgegen dem (römischen) Gesetz nicht beachtet hatte; und der Apostel war berechtigt, darauf hinzuweisen. Das bedeutete keineswegs das Beschreiten eines Rechtswegs. Muss dazu gesagt werden, dass ein solches Zufluchtnehmen zu den bestehenden Gewalten sich für einen Nachfolger und Knecht Jesu wenig geziemt? Paulus benutzte keineswegs solche menschlichen Mittel. Er wies in möglichst einfacher Weise auf einen in den Augen der Gesetze ernsten Umstand hin; und dies zeigte Wirkung. „Als sie ihn aber mit den Riemen ausspannten, sprach Paulus zu dem Hauptmann, der dastand: Ist es euch erlaubt, einen Menschen, der ein Römer ist, und zwar unverurteilt, zu geißeln? Als es aber der Hauptmann hörte, ging er hin und meldete dem Obersten und sprach: Was hast du vor zu tun? denn dieser Mensch ist ein Römer“ (V. 25-26).
Daraufhin wurde Paulus von dem Obersten befragt. Wir müssen bedenken, dass jede fälschliche Behauptung, ein Römer zu sein, ein Kapitalverbrechen gegen die herrschende Obrigkeit darstellte, welche natürlich unverzüglich mit schwerster Strafe antwortete. Eine falsche Angabe diesbezüglich war zu gefährlich, als dass sie oft versucht wurde. Sie setzte einen Menschen sofort dem Risiko eines gewaltsamen Todes aus. Die Beamten des Römischen Reiches neigten daher wenig dazu, einen solchen Anspruch anzuzweifeln, insbesondere seitens eines Mannes, dessen Charakter so offensichtlich zutage lag, auch wenn sie Paulus kaum gekannt haben dürften. „Alsbald nun“, wird uns gesagt, „standen von ihm ab, die ihn ausforschen sollten; aber auch der Oberste fürchtete sich, als er erfuhr, dass er ein Römer sei, und weil er ihn gebunden hatte“ (V. 29). Dennoch trachtet ein Mensch danach, seine Würde in angemessener Weise zu wahren. „Des folgenden Tages aber, da er mit Gewissheit erfahren wollte, weshalb er von den Juden angeklagt sei, machte er ihn los [Das bedeutet, er hielt Paulus weiterhin als Gefangenen, wozu er kein Recht hatte.] und befahl, dass die Hohenpriester und das ganze Synedrium zusammenkommen sollten; und er führte Paulus hinab und stellte ihn vor sie“ (V. 30).
Der Apostel verlangte keine weitere Genugtuung und war so weit wie möglich von dem Gedanken oder der Forderung entfernt, den Obersten für den Fehler, den er gemacht hatte, anzuklagen; denn dann wäre er offensichtlich von der Gnade abgewichen. So bietet uns dieses Ereignis ein wenig die Möglichkeit, in diesen wunderbaren Mann Gottes hineinzusehen.