Da antwortete Hiob folgendermaßen:
„Ach, würde doch mein Unmut genau gewogen und legte man mein Unglück zugleich (= dagegen) auf die Waage!
Denn dann würde es schwerer erfunden werden als der Sand am Meere; darum ist meine Rede irre gegangen.
Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, deren brennendes Gift mein Geist in sich einsaugt: Gottes Schrecknisse stellen sich in Schlachtordnung gegen mich auf.
Schreit etwa ein Wildesel auf grasiger Weide? Oder brüllt ein Rind bei seinem Futterkorn?
Genießt man fade Speisen ohne Salz? Oder ist Wohlgeschmack im Schleim des Eidotters (= im Eiweiß)?
Meine Seele sträubt sich dagegen, solche Sachen anzurühren, und ihnen gleicht die Ekelhaftigkeit meiner Speise.“
„O dass doch meine Bitte erfüllt würde und Gott mir meine Hoffnung gewährte!
Gefiele es doch Gott, mich zu zermalmen! Streckte er doch seine Hand aus und schnitte meinen Lebensfaden ab!
So würde doch das noch ein Trost für mich sein – ja aufhüpfen wollte ich trotz des schonungslosen Schmerzes –, dass ich die Gebote des Heiligen nie verleugnet habe.
Wie groß ist denn meine Kraft noch, dass ich ausharren könnte? Und welcher Ausgang wartet meiner, dass ich mich noch gedulden sollte?
Ist meine Kraft etwa hart wie die Kraft der Steine oder mein Leib aus Erz gegossen?
Ach, bin ich nicht ganz und gar hilflos? Und ist mir nicht alles entrissen, worauf ich mich stützen könnte?“
„Dem Verzweifelnden gebührt Liebe von seinem Nächsten, selbst wenn er die Furcht vor dem Allmächtigen preisgibt.
Meine Freunde aber haben sich treulos bewiesen wie ein Wildbach, wie die Rinnsale von Wildbächen, die (in der Regenzeit) überströmen,
die trübe vom Eiswasser dahinfließen, wenn der (geschmolzene) Schnee sich in ihnen birgt;
doch zur Zeit, wo die Sonnenglut sie trifft, versiegen sie: wenn es heiß wird, sind sie spurlos verschwunden.
Da schlängeln sich die Pfade ihres Laufes, verdunsten in die leere Luft und verlieren sich.
Die Handelszüge (= Karawanen) von Thema (Jes 21,14) schauen nach ihnen aus, die Wanderzüge der Sabäer (1,15) setzen ihre Hoffnung auf sie,
werden jedoch in ihrem Vertrauen betrogen: sie kommen hin und sehen sich getäuscht.
So seid auch ihr jetzt ein Nichts für mich geworden: ihr seht das Schreckliche und seid fassungslos!
Habe ich etwa gebeten: ‚Gebt mir etwas und macht mir ein Geschenk von eurem Vermögen;
rettet mich aus der Hand meines Bedrängers und kauft mich los aus der Gewalt unbarmherziger Gläubiger‘?“
„Belehrt mich, so will ich schweigen, und macht mir klar, worin ich mich verfehlt habe!
Wie eindringlich sind Worte der Wahrheit! Aber was beweist der Tadel, den ihr aussprecht?
Beabsichtigt ihr, Worte von mir richtigzustellen? Für den Wind sind ja doch die Worte eines Verzweifelnden!
Sogar über ein Waisenkind würdet ihr das Los werfen und euren eigenen Freund verschachern!
Nun aber – versteht euch doch dazu, mich anzublicken: ich werde euch doch wahrlich nicht ins Angesicht belügen!
O kehrt euch her zu mir: tut mir nicht unrecht! Nein, kehrt euch her zu mir; noch steht das Recht in dieser Sache auf meiner Seite!
Entsteht denn durch meine Zunge Unrecht? Oder fehlt mir das Vermögen, Unglücksschläge zu unterscheiden?“
Querverweise zu Hiob 6,15 Hiob 6,15
Allen meinen Vertrauten ekelt vor mir, und die ich liebgehabt habe, stehen mir feindlich gegenüber.
Warum ist mein Schmerz endlos geworden und meine Wunde tödlich, dass sie eine Heilung zurückweist? Willst du mir wirklich wie ein trügerischer Bach sein, wie ein Wasserlauf, auf den kein Verlass ist?
Meine Freunde und Genossen stehen abseits von meinem Elend, und meine nächsten Verwandten halten sich fern.
Dies sind die Leute, die bei euren Liebesmahlen als Schmutzflecken ohne Scheu mitschmausen und es sich dabei wohl sein lassen; regenlose Wolken sind sie, die von Winden vorübergetrieben werden, spätherbstlich kahle, fruchtlose, zweimal abgestorbene, entwurzelte Bäume,
Sogar mein bester Freund, dem ich fest vertraute, der mein Brot aß, hat die Ferse gegen mich erhoben.
Denn (oder: ach!) nicht ein Feind ist’s, der mich schmäht – das wollt’ ich ertragen; nicht einer, der mich hasst, tut groß gegen mich – ich würde vor ihm mich verbergen;
nein, du bist’s, ein Mann meinesgleichen, mein Freund und trauter Bekannter,
die wir innigen Verkehr miteinander pflegten, zum Hause Gottes schritten im Festgetümmel.
Freunde und Gefährten hast du mir entfremdet: nur die Finsternis ist mir vertraut (geblieben).
Seid auf der Hut, ein jeder vor seinem Freunde, und schenkt auch keinem Bruder Vertrauen! Denn jeder Bruder übt Lug und Trug, und jeder Freund geht auf Verleumdung aus;
sie hintergehen einer den andern, und keiner redet ein wahres Wort; sie haben ihre Zunge an Lügenreden gewöhnt und mühen sich ab, verkehrt zu handeln, können nicht anders:
Alle deine Liebhaber haben dich vergessen und kümmern sich nicht um dich; denn wie ein Feind schlägt, so habe ich dich geschlagen mit erbarmungsloser Züchtigung wegen der Größe deiner Schuld und wegen der Menge deiner Sünden!
Trauet keinem Genossen mehr, verlasst euch nicht auf den Freund! Vor dem Weibe, das an deiner Brust (oder: in deinen Armen) liegt, hüte die Pforten deines Mundes!
Denn der Sohn missachtet den Vater, die Tochter lehnt sich gegen ihre Mutter auf, die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter, und eines jeden Feinde sind die eigenen Hausgenossen (vgl. Mt 10,35-36). –
Nicht von euch allen rede ich; ich weiß ja, wie die beschaffen sind, welche ich erwählt habe; aber das Schriftwort muss erfüllt werden (Ps 41,10): ‚Der mein Brot isst, hat seine Ferse gegen mich erhoben.‘
Wisset wohl: es kommt die Stunde, ja sie ist schon da, dass ihr euch zerstreuen werdet, ein jeder in das Seine (= in seinen Wohnort), und ihr mich allein lassen werdet. Und doch bin ich (alsdann) nicht allein, denn der Vater ist bei mir.