Er hatte den Verlauf des Reiches gesehen, nicht nur bruchstückhaft, sondern in seiner Gesamtheit. Im letzten Teil des Buches haben wir die Abfolge genauer gezeichnet, und die detaillierten Wege der verschiedenen Mächte gegenüber Daniels Volk; aber hier ist es die allgemeine Geschichte des heidnischen Reiches.
Dieses Bild, sein Haupt war aus feinem Gold; seine Brust und seine Arme aus Silber; sein Bauch und seine Lenden aus Kupfer (2,32).
Das heißt, es gab eine Verschlechterung, da die Reiche sich von der Quelle der Macht entfernten. Es war Gott, der Nebukadnezar die königliche Herrschaft gab. Folglich wird das, was der Quelle am nächsten ist, als „sein Haupt ... aus feinem Gold“ gesehen. Dazu kommt in gewissem Maß mehr Menschliches im persischen Reich: „seine Brust und seine Arme aus Silber“, einem minderwertigen Metall, und so weiter bis hinunter zu den Beinen, die von Eisen sind, und den Füßen, teils von Eisen und teils von Ton. Daraus geht ganz klar hervor, dass, je weiter wir von der ursprünglichen Gewährung der Macht hinabsteigen, eine allmähliche Entwertung stattfindet.
Aber es ist gut, jetzt ein oder zwei Prinzipien zu verdeutlichen, die meiner Meinung nach bei der Betrachtung prophetischer Schriften von Bedeutung sind. Eine der gebräuchlichsten Maximen, sogar unter Christen, ist die, dass die Prophezeiung durch das Ereignis gedeutet werden muss, dass die Geschichte der eigentliche Exponent der Prophezeiung ist und dass, wenn die prophetischen Visionen auf der Erde verwirklicht werden, die Fakten die Visionen erklären. Das ist ein falsches Prinzip; es hat nicht einen Funken Wahrheit in sich. Die Menschen verwechseln mit der Auslegung der Prophezeiung die Bestätigung ihrer Wahrheit. Wenn sich eine Vorhersage erfüllt, bestätigt die Erfüllung natürlich ihre Wahrheit, aber das ist etwas ganz anderes, als sie zu erklären. Das richtige Verständnis einer Prophezeiung ist nach dem Ereignis genauso schwierig wie vor dem Ereignis. Nehmen wir zum Beispiel die 70 Wochen Daniels. Dieses Kapitel hat Anlass zu erheblichen Kontroversen und Streitigkeiten unter den Gläubigen selbst gegeben. Es ist eine ihrer häufigsten Annahmen, dass alles erfüllt ist (was nicht stimmt), und doch gibt es über seine Bedeutung unter ihnen keinerlei Einigkeit.
Betrachten wir noch einmal die Prophezeiung Hesekiels: Wir finden, dass die Schwierigkeit der Prophezeiung aus einer ganz anderen Quelle stammt. Der erste Teil von Hesekiel wurde in den damaligen Wegen Gottes mit Israel erfüllt; er erstreckte sich über die Zeit, als Daniel lebte. Aber das erklärt es nicht. Er ist in der Tat undurchsichtiger als die Schlusskapitel, die in der Zukunft liegen.
Was erklärt dann die Prophetie? Das, was die ganze Heilige Schrift erklärt, allein der Geist Gottes. Seine Kraft kann jeden Teil des Wortes Gottes entfalten. Will ich damit sagen, dass es nicht wichtig ist, Sprachen zu kennen, Geschichte zu verstehen und so weiter? Ich stelle das Lernen nicht in Frage: Es hat seinen Nutzen; aber ich bestreite, dass die Geschichte der Ausleger der Prophetie oder irgendeiner Schrift ist. Und wenn es Christen gibt, die die Geschichte der Welt oder die ursprünglichen Sprachen der Schrift kennen, dann hat es Christus mit ihrer geistlichen Einsicht zu tun, nicht mit ihrem Wissen oder ihrer Gelehrsamkeit. Außerdem, selbst wenn Menschen Christen sind, folgt daraus nicht unbedingt, dass sie die Schrift verstehen. Sie kennen Christus, sonst wären sie keine Christen. Aber ein wirklicher Zugang zu den Gedanken Gottes in der Schrift setzt voraus, dass ein Mensch sich vor sich selbst hütet, die Herrlichkeit Gottes begehrt, volles Vertrauen in sein Wort hat und sich auf den Heiligen Geist verlässt. Das Verstehen der Schrift ist keine rein intellektuelle Sache. Wenn ein Mensch überhaupt keinen Verstand hat, kann er nichts verstehen: aber der Verstand ist nur das Gefäß – nicht die Kraft. Die Kraft ist der Heilige Geist, der auf und durch das Gefäß wirkt; aber es muss der Heilige Geist selbst sein, der eine Seele erfüllt. Wie es heißt: „Und sie werden alle von Gott gelehrt sein“ (Jes 54,13; Joh 6,45).
Es gibt einen großen Unterschied im Maß der Belehrung, weil es einen großen Unterschied im Maß der Abhängigkeit von Gott gibt. Das Wichtigste ist, sich vor Augen zu halten, dass das Verständnis der Schrift viel mehr von dem abhängt, was moralisch ist, als von dem, was verstandesmäßig ist – von einem einzigen Blick auf Christus. Der Heilige Geist kann uns niemals etwas geben, was uns von der Notwendigkeit der Abhängigkeit und des Wartens auf Gott befreit.
Wie also sollen wir die Prophetie auslegen? Sie ist völlig unabhängig von der Geschichte; sie wurde gegeben, um verstanden zu werden, bevor sie Geschichte wird. Dass dies wahr ist, muss offensichtlich sein. Die große Masse der Prophezeiungen handelt von den schrecklichen Gerichten, die am Ende dieses Zeitalters herabfallen werden. Was wird aus den Menschen, die nicht von den Prophezeiungen profitieren, bis die Tatsachen eingetreten sind? Es ist eine ernste Sache, sie zu verachten. Der Gläubige, der die Prophetie versteht, hat eine besondere Hilfe, die dem fehlt, der sie vernachlässigt.
Ausgehend von diesem großen Grundsatz, dass es der Heilige Geist ist, der uns die Prophezeiung lesen lässt, weil sie sich auf die Herrlichkeit Gottes bezieht und mit Christus verbunden ist, der noch erhöht werden soll und dessen Herrlichkeit die Erde und den Himmel erfüllen wird, wobei alle Eroberer und angeblich rechtmäßigen Inhaber abgesetzt werden, wollen wir diese Szene als die betrachten, die uns den Lauf der Welt bis zu dieser Zeit zeigt. Betrachten wir zunächst die Stellung der Parteien. Hier war der stolzeste König der Welt. Er war vor dem Tod seines Vaters an der Spitze eines siegreichen Heeres ausgezogen – bevor er richtig das ungeteilte Königreich Babylon übernahm. Und nun hat er sich einen Herrschaftsbereich erschlossen, der seinen Ehrgeiz vielleicht übersteigt. Er erfährt mit Gewissheit, dass es Gott in seiner Vorsehung war, der ihn in diese Stellung gebracht hatte. Aber mehr als das: Er sieht vor sich in wenigen Strichen die ganze Karte der heidnischen Welt – die Hauptmerkmale ihrer Geschichte von diesem Tag bis zum Tag der Herrlichkeit und des Gerichts, der kommen wird. Er hat den Aufstieg einer anderen und benachbarten Macht vor sich, die bereits in der Prophetie angedeutet worden war; so gab es also überhaupt keine Schwierigkeiten, zu erfassen, was damit gemeint war. Der Prophet Jesaja, der einhundertfünfzig Jahre vor der Geburt des Kores lebte, hatte nicht nur durch den Heiligen Geist auf die Nation und den König der Meder und Perser hingewiesen, sondern ihn auch beim Namen genannt.