Behandelter Abschnitt Ps 42,1-5
Verse 1–5 | Sehnsucht nach Gott
1b Wie ein Hirsch lechzt nach Wasserbächen, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott! 2 Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott: Wann werde ich kommen und erscheinen vor Gottes Angesicht? 3 Meine Tränen sind mir zur Speise geworden Tag und Nacht, da man den ganzen Tag zu mir sagt: Wo ist dein Gott? 4 Daran will ich mich erinnern und in mir ausschütten meine Seele, wie ich einherzog in der Schar, mit ihnen schritt zum Haus Gottes, mit der Stimme des Jubels und des Lobes – eine feiernde Menge. 5 Was beugst du dich nieder, meine Seele, und bist unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihn noch preisen für die Rettung seines Angesichts.
Die Unterweisung beginnt damit, dass der Gläubige zu Gott schreit, dass er intensiv nach Ihm lechzt (Vers 1b). Es ist ein Schrei aus einer Leere und wegen einer Leere. Jeder Mensch, egal wie religiös, erlebt diese Leere, wenn er Gott vermisst. Diese Leere kann nur durch den lebendigen Gott selbst gefüllt werden. Es ist eine Leere, ein Durst, den jedes Geschöpf in der Hölle auf ewig erfahren wird, weil er auf ewig von Gott getrennt sein wird. Es ist eine Leere, ein Durst, den der Herr Jesus in den drei Stunden der Finsternis, von seinem Gott verlassen, erlebte, als Er den Platz aller einnahm, die an Ihn glauben.
Der Psalmist vergleicht seine Sehnsucht mit dem Lechzen – das hebräische Wort bedeutet „Sehnsucht“, „sehr starkes Verlangen“ – eines Hirsches nach Wasserbächen (vgl. Jer 14,6). Ein Kamel kann mehrere Tage ohne Wasser auskommen, ein Hirsch nicht. Übrigens, da das Verb „lechzen“ weiblich ist, ist es besser, das mit „Hirsch“ übersetzte Wort mit „Hirschkuh“ zu übersetzen. Der Psalmist wählt das weibliche „Hirschkuh“, weil „meine Seele“ auch weiblich ist, es gibt also eine Parallele.
Jedes Tier, das durstig ist, schreit lechzend (Joel 1,20). Eine Hirschkuh ist ein anmutiges, scheues Tier und eine attraktive Beute für Wildtiere. Das macht die Hirschkuh zu einem ansprechenden Beispiel für den Gottesfürchtigen. Der Gläubige sehnt sich mit seiner Seele, mit seinem ganzen Inneren, mit all seinen Gefühlen nach Gottes Gegenwart, nach Gemeinschaft mit Ihm, und er schreit zu Gott, direkt und persönlich mit dem Ausruf „nach dir, o Gott!“
Er setzt das Bekanntwerden seines Verlangens nach Gott fort, indem er sagt: „Meine Seele dürstet nach Gott“ (Vers 2; vgl. Ps 143,6; Jes 55,1; Joh 19,28; Off 21,6; 22,17). Dann bringt er seine Sehnsucht nach Ihm (vgl. Ps 84,2) noch stärker zum Ausdruck, indem er Ihn „den lebendigen Gott“ nennt (5Mo 5,26; Hos 2,1). Dieser Name Gottes erinnert uns daran, dass Er „die Quelle lebendigen Wassers“ ist (Jer 2,13; 17,13).
Der Durst nach Gott wird erst gestillt, wenn er kommen und „vor Gottes Angesicht“ erscheinen kann, d. h. wenn er den Tempel betritt, den Ort, an dem Gott wohnt. Der Wunsch, vor Gott zu erscheinen, bringt seine Sehnsucht nach Gott noch stärker zum Ausdruck. Der Ausdruck „Erscheinen vor Gottes Angesicht“ wird für das Erscheinen des Volkes Israel dreimal im Jahr in Jerusalem an den Festen des HERRN verwendet.
Die große Frage, die ihn quält, ist, wann das geschehen wird, wann er zum Altar Gottes kommen kann, zu Gott, dem Gott seiner Jubelfreude, um Ihn mit der Laute zu preisen (Ps 43,4). Für die gottesfürchtigen Mitglieder von Gottes irdischem Volk ist die Gemeinschaft mit Gott eng mit dem Ort verbunden, an dem Er wohnt, in seinem Haus in Jerusalem.
Der Gottesfürchtige ist von dem Ort vertrieben, der ihm so wertvoll ist. Dies bereitet ihm großen Kummer. Er lebt in einem fremden Land. Nach der quälenden Frage, wann er zu Gott kommen wird, wird er nun von seinen Feinden mit der spöttischen und herausfordernden Frage bedrängt, wo denn sein Gott sei, nach dem er sich so sehnt (Vers 4; vgl. Joel 2,17). Schließlich setzt sich Gott nicht für sein vertriebenes Volk ein. Ihm fehlt es sicherlich an Kraft.
Dieser Spott vergrößert seine Qualen. Sein Kummer über die fehlende Gemeinschaft mit Gott in seinem Haus wird dadurch noch verstärkt. Darüber weint er „Tag und Nacht“, denn er wird von derselben Frage gequält. Dass seine Tränen für ihn Speise sind, bedeutet, dass er so von Trauer überwältigt ist, dass er keine Nahrung zu sich nimmt.
Der Psalmist blickt zurück auf sein Leben, auf seine Erfahrungen mit Gott, um daraus Hoffnung zu schöpfen. Er denkt mit großer Sehnsucht an die Zeit zurück, als er mit dem Volk Gottes zum Haus Gottes hinaufzog (Vers 4; Ps 122,4). Seine Seele schüttet sich in ihm aus, was bedeutet, dass seine Emotionen heftig aufgewühlt sind, wenn er daran zurückdenkt. Jedes Jahr zog er mit den Pilgern hinauf nach Jerusalem. Sie sollten zu den drei großen Festen nach Jerusalem gehen: zum Passahfest mit dem Fest der ungesäuerten Brote, zum Fest der Wochen und zum Laubhüttenfest (2Mo 23,17; 34,23; 5Mo 16,16).
Was für eine große Schar ging da hoch! Er hört sozusagen wieder die „Stimme des Jubels und des Lobes“, die bei dem Hinaufziehen gesungen wurden. Er ist mit ihnen gegangen; er war einer von ihnen. Zusammen bildeten sie „eine feiernde Menge“. Alle freuten sich darauf, Gott in seinem Haus zu begegnen.
Aber jetzt? Der Gottesfürchtige wendet sich an sich selbst. Er stellt sich eine Frage, die er noch zweimal stellen wird (Vers 6; Vers 12; Ps 43,5). Es ist eine verzweifelte Frage an sich selbst, warum seine Seele sich in ihm niederbeugt und unruhig in ihm ist. Er fragt sich, ob Gott ihm etwas zu sagen hat, oder auch, ob er Gott wirklich liebt (vgl. Joh 21,15-17). Zugleich macht er sich selbst Mut, auf Gott zu harren. Er tut dies mit der Gewissheit, dass er Gott wieder an dem Ort preisen wird, an dem Gott wohnt.
Gott hat keine hörbare Antwort gegeben, aber das Vertrauen des Gottesfürchtigen auf Ihn gibt ihm diese Hoffnung. Harren bedeutet, auf Gott zu warten, bis Er handelt. Im fremden Land vertraut er weiter auf Gott. Er vertraut darauf, dass „die Rettung“ von Gottes Angesicht, d. h. von seiner Gegenwart, kommen wird. Das wird durch das Erscheinen und die Gegenwart des Messias geschehen. Die „Rettung“ – wörtlich Plural: Rettungen – bedeutet nicht nur die Rettung durch die Macht Gottes vom Feind, wie am Roten Meer, sondern schließt auch die Rückkehr zu Gottes Wohnung ein.