Behandelter Abschnitt Hiob 15,17-24
Verse 17–24 | Die Erfahrung des Gottlosen
17 Ich will es dir berichten, höre mir zu; und was ich gesehen habe, will ich erzählen, 18 was die Weisen verkündigt und nicht verhehlt haben von ihren Vätern her – 19 ihnen allein war das Land übergeben, und kein Fremder zog durch ihre Mitte –: 20 Alle seine Tage wird der Gottlose gequält, und eine [kleine] Zahl von Jahren ist dem Gewalttätigen aufgespart. 21 Die Stimme von Schrecknissen ist in seinen Ohren, im Frieden kommt der Verwüster über ihn; 22 er glaubt nicht an eine Rückkehr aus der Finsternis, und er ist ausersehen für das Schwert. 23 Er schweift umher nach Brot – wo [ist es]? Er weiß, dass neben ihm ein Tag der Finsternis bereitet ist. 24 Angst und Bedrängnis schrecken ihn, sie überwältigen ihn wie ein König, gerüstet zum Sturm.
Selbstbewusst verweist Eliphas auf seine Autorität, Hiob zu belehren (Vers 17). So wie Hiob seine Freunde aufforderte, ihm zuzuhören (Hiob 13,6.17), so fordert Eliphas nun Hiob auf, ihm zuzuhören. Hiob kann die Beobachtungen, die er, Eliphas, mit seinen eigenen Augen gemacht hat, nicht ignorieren. In seiner ersten Rede hat er bereits mit seiner Beobachtung argumentiert (Hiob 4,8.12-16). Seine Beobachtungen stehen im Einklang mit der Tradition, mit dem, was die Weisen offenbart haben und was den Vätern überliefert wurde (Vers 18). Er hat dies zur Kenntnis genommen und es als Wahrheit angenommen. Dies Letztere ist der Kern seiner zweiten Rede.
Eliphas schöpft seine Weisheit aus rein menschlichen Quellen. Damit glaubt er, Hiob überzeugen zu können. Doch bei all seinem Wissen, das er durch Beobachtung und Überlieferung erlangt hat, kennt Eliphas weder Gott noch sein eigenes Herz und schon gar nicht den Grund für das Leid, das Hiob erfährt.
In Vers 19 könnte es sich um Teman handeln, das Land, aus dem Eliphas stammte und das für seine Weisheit bekannt war (Jer 49,7; Obad 1,8.9). Auf jeden Fall ist es ein Land, in dem weise Männer lebten, die nirgendwo sonst zu finden waren. Dieses Land war ihnen geschenkt worden. Das hat sie nicht demütig gemacht, sondern sie haben sich mit ihrer Weisheit gebrüstet. Dass kein Fremder durch ihre Mitte ging, könnte bedeuten, dass niemand ihre Weisheit mit falschen Ideen beeinflussen konnte. Es war eine unvermischte, reine Weisheit. Eliphas prahlt hier ungeniert mit der Weisheit, die er bei anderen und vor allem bei sich selbst beobachtet hat.
Nach seiner ausführlichen Einleitung kommt Eliphas in Vers 20 zum Inhalt seiner zweiten Rede. In den Versen 20–24 wendet er seine erworbene Weisheit auf einen Gottlosen an. Ein gottloser Mensch, sagt Eliphas, kränkt sich jeden Tag selbst (Vers 20). Hiob leidet jeden Tag, aber er tut es sich selbst an, weil er gottlos ist. Der Gewalttäter lebt nur „eine kleine Zahl von Jahren“. Hiob muss dies berücksichtigen, wenn er in seiner Rebellion gegen Gott verharrt.
Eliphas spricht in allgemeinen Worten, aber die Anwendung auf Hiob ist eindeutig und offensichtlich. Er erkennt nicht, dass das, was er sagt, nicht für alle Sünder gilt. So wissen wir zum Beispiel von dem gottlosen und sehr gewalttätigen König Manasse, dass er nicht weniger als fünfundfünfzig Jahre regierte (2Chr 33,1; vgl. Ps 73,3).
Vers 21 ist auch eine klare Anspielung auf Hiob, denn Hiob drückte sein Leiden in seiner ersten Klage mit diesen Worten aus (Hiob 3,25.26). Er sagte dies in der Not seiner Seele, auf den Trümmern eines zerstörten Lebens sitzend. Es ist offensichtlich, dass Eliphas für diese Ausdrucksformen des
Schmerzes nicht empfänglich war. Diese Worte verwendet er nun gegen Hiob.
Ein gottloser Bösewicht kann in der Tat in Reichtum und Überfluss leben, während ihn das kleinste unbekannte Geräusch, das er hört, zu Tode erschreckt. Wer ein schlechtes Gewissen hat, hat keine Ruhe. Er lebt in ständiger Angst und hat nie das Gefühl, dass er in Sicherheit ist. Selbst wenn es ihm gut zu gehen scheint, kommt der Zerstörer zu ihm.
Die ausweglose Situation, in der er sich dann befindet, ist nicht umkehrbar (Vers 22). Auch erwartet er keine Veränderung. Er wird die Dunkelheit, in der er sich befindet, nicht verlassen. Das Schicksal hat zugeschlagen und er hat keine andere Wahl, als es zu akzeptieren, egal wie sehr er sich dagegen wehrt. Er ist ständig von der Gefahr eines plötzlichen gewaltsamen Todes bedroht.
Wegen all des Unglücks, das ihm widerfahren ist, ist er auch zum Betteln gezwungen (Vers 23). Er versucht, sein Leben zu verlängern, indem er überall nach Brot sucht, aber er weiß nicht, wo er es finden kann. Die Situation ist hoffnungslos. Was ihn erwartet, weiß er, ist „ein Tag der Finsternis“. Der Tag der Finsternis ist für ihn greifbar. Es ist wirklich alles seine eigene Schuld.
Frieden und Wohlstand sind „Bedrängnis und Angst“ gewichen (Vers 24). Sie kommen über ihn, ohne dass er sich dagegen wehren kann. Er möchte es, aber er kann es nicht. Er wird von ihr nach einem vorher festgelegten Plan überwältigt. Die Schrecken, die ihn überwältigt haben, sind wie ein König, der gut vorbereitet in den Krieg zieht. Hiob kann sich nicht wehren und wird besiegt.