Bei Vers 12 ist zu bemerken, dass nach den ältesten Handschriften gelesen wird: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldiger»." Das stimmt mit jenem Worte des Herrn Jesu: „So du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirft allda eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so lass allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, — alsdann komm und opfere deine Gabe."
Es muss also zwischen uns und dem Bruder oder der Schwester alles in Ordnung sein, soweit es an uns liegt. Wir müssen vergeben haben, sonst können wir nicht verlangen, dass Gott uns vergibt. „Mit dem gleichen Masse, mit dem ihr messet, soll euch gemessen werden", und in der Versöhnung, die unser Heiland geschaffen hat, gibt er uns seinen Geist. Die Versöhnung wird versiegelt mit der Gabe des Heiligen Geistes, und wenn wir von Natur ein trotziges Herz haben, so wird uns bei einer gründlichen Bekehrung ein neuer Geist geschenkt, ein Geist der Sanftmut, der Liebe und Geduld, auch denen gegenüber, denen man früher nicht verzeihen zu können meinte.
Der Herr löst uns von unserer Selbstgerechtigkeit und von unserem Trotz. Da rechnet man dann anders als vorher. „Führe uns nicht in Versuchung." Auch da muss man wohl unterscheiden. Versuchungen im allgemeinen kann uns der Herr nicht ersparen. „Er ist versucht worden allenthalben, gleichwie wir, doch ohne Sünde." Er hat besondere Versuchungen durchgemacht in der Wüste, und so gibt es auch bei uns Zeiten, wo wir in besonderer Weise versucht sind zu Hochmut oder Schwermut, zu Übermut oder zu Kleinmut. Da verlassen wir uns dann nicht auf unseren Charakter, auf unsere christlichen Erfahrungen, sondern darauf, dass der Herr die Versuchung so bemisst, dass wir sie ertragen können. Er schafft mit der Versuchung zugleich einen Ausweg, so dass wir weit überwinden können mit ihm.
Der Herr sorgt dafür, dass wir von unseren Höhen herunterkommen und uns nicht einbilden, wir seien über alles hinweg. Ein wahrer Fortschritt im inneren Leben beweist sich namentlich auch darin, dass man in den eigenen Augen schwächer wird, sich nichts mehr selber zutraut. „Der Gerechte lebt seines Glaubens" — nicht seiner Erfahrungen. Er schlägt die Wurzeln seines Lebens immer tiefer ein in den heimatlichen Boden der Erlösung und der Gnade Gottes.
Behandelter Abschnitt Mt 6,12-13; 18,21-35
„Vergib auch uns unsere Schulden wie wir unseren Schuldiger» vergeben. Die unbestreitbar richtige Lesart heisst: „vergeben haben". Es ist nur ein ganz kleiner Unterschied im Griechischen. „Gib uns unser täglich Brot" und: „Vergib uns unsere Schulden" — beides gehört zusammen. Was würde uns die äussere Hilfe nützen — was hülfe uns die Garantie unseres täglichen Brotes, wenn wir dabei die furchtbare Last unvergebener Sünde mit uns durchs Leben schleppen und schliesslich vor dem Throne Gottes damit anlangen müssten? Gib uns unser Brot und vergib unsere Schuld.
Dabei ist nicht zunächst an Übertretungen gedacht. Was würde aus uns, wenn Gott unsere Übertretungen, unsere vergangenen Sünden nicht bei unserer Bekehrung vergeben hätte? Wenn es aber hier heisst „unsere Schulden", so geht das viel weiter als Übertretungen. Ich kann meinem Gott gehorchen, es kann mir nichts bewusst sein. „Ich bin mir nichts bewusst, aber darum bin ich nicht gerechtfertigt; Gott ist es aber, der mich richtet", sagt der Apostel Paulus. Was wir Gott schuldig sind, das geht tiefer als das Gebiet der Übertretungen.
Wohl uns, wenn wir uns keine Übertretungen mehr zuschulden kommen lassen. „Wer aus Gott geboren ist, der sündigt nicht; denn sein Same bleibet bei ihm und kann nicht sündigen, denn er ist aus Gott geboren." Es ist ihm eine Unmöglichkeit zu sündigen in dem Sinne, das Gebot wissentlich zu übertreten, aber dann geht es von Reinigung zu Reinigung, und wieviel wir zurückgeblieben sind hinter dem, was Gott von uns erwarten konnte — auch dem Nächsten gegenüber —, das geht uns erst allmählich auf. Gib uns und vergib uns — da steht aber eben dabei: „wie wir unseren Schuldiger» vergeben haben".
Das erinnert uns an die Geschichte vom Schalksknecht, der, nachdem ihm Barmherzigkeit widerfahren war, so unbarmherzig mit seinem Nächsten umging, i. Joh 5,18 heisst es: „Wir wissen, dass jeder, der aus Gott geboren ist, nicht sündigt, sondern der aus Gott Geborene bewahrt sich, und der Böse tastet ihn nicht an. Wir wissen, dass wir aus Gott sind, und die ganze Welt liegt im Bösen, im Argen." „Vergib uns unsere Schuld." Solange unsere Schulden nicht vergeben sind, hat der Arge ein Recht an uns, und er hat auch ein Recht an uns, solange wir anderen ihre Schuld nachtragen. Da kann er uns antasten.
Wo wir in der Liebe wandeln, andere in Geduld tragen, ihnen freundlich begegnen, ihnen ihre Schuld nicht nachtragen, da kann uns auch der Arge nichts anhaben. „Wer seinen Bruder liebt, in dem ist kein Ärgernis." Da ist nichts, was ihn zu Fall bringen könnte. Er steht auf einem Boden, wo der Arge keinen Zugang hat, und erst, wenn du gegen deinen Bruder irgend etwas hast oder aufkommen lässest, gewinnt der Arge Raum. Er ist der Hasser, der Mörder von Anfang an. Wo jemand liebt, steht er ausserhalb des Bereichs der Finsternis. Liebe und Licht gehen zusammen. Wer im Reiche der Liebe steht, steht in Gott, denn Gott ist die Liebe, und da hat der Feind keine Macht.
„Führe uns nicht in Versuchung." Das Wort Versuchung hat also die doppelte Bedeutung versucht werden zum Bösen —, das tut Gott niemals, aber er erprobt uns. Er führt uns nicht in Lagen hinein, wo wir nicht durchkommen. Wie auch eine Lage sein mag, in die wir jetzt oder späterhin kommen, so dürfen wir uns doch unbedingt darauf verlassen, dass es ein Durchkommen gibt — nicht ein Zurückkommen. Er nimmt jeden Morgen seine Kinder beiseite und gibt ihnen Ausrüstung für den Tag. Wir wissen nicht, was im neuen Jahre uns begegnet.
Die Macht der Finsternis nimmt überhand. Je tiefer wir ins Reich der Liebe hineinkommen, desto näher kommen wir zu Gott, und desto ferner stehen wir aller Hetzerei des Feindes. Und dann schliesst das Vaterunser mit diesem Lobgesang, mit diesem Liede der Anbetung. „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen." In der dreimaligen Versuchung, mit der der Feind an den Sohn Gottes heranzutreten wagte, hat er zu ihm gesagt' „Alle diese Herrlichkeit ist mein, und ich gebe sie dir, wenn du niederfällst und mich anbetest."
Der Vater im Himmel hat nicht dem Feinde, sondern seinem Sohne die Reiche der Welt beschieden. Nehmen wir nie etwas an aus des Feindes Hand — alles, was uns wahrhaft gut ist, bekommen wir aus der Hand unseres Vaters im Himmel. Das hat er uns zugedacht und wird es uns auch geben zu seiner Zeit. „Er erspart kein Gutes denen, die ihn lieben." Da brauchen wir uns keine Offerten vom Feinde machen zu lasten. Er wird uns nicht antasten lasten, aber allerdings gilt es dann, auch nicht das Gebiet des Feindes zu betreten. Augenluft, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen ist das Gebiet der Welt und stammt aus dem Reiche der Finsternis. Dein ist das Reich und alle Herrschaft — ich danke ab — ich räche mich nicht selbst—ich will nicht über andere herrschen, sondern nur dienen.
Zu herrschen ist deine Sache — dein ist das Reich. Ich will keine Kraft suchen — weder in meinem Arm noch in meiner Ausrüstung. Ich will keine eigene Kraft haben. „Die durch das Tränental gehen, gehen von Kraft zu Kraft" — die Gott loben und ihm dienen, erneuern fortwährend ihre Kraft. Ich will keine Herrlichkeit hier unten; ich will in der Demut bleiben, will keine Rolle spielen oder irgend etwas vorstellen hienieden. Die Herrlichkeit ist Lein, und du reisst jetzt in deinen Kindern verborgene Herrlichkeit aus, ein mit Christo in Gott verborgenes Leben. Das ist die grösste Herrlichkeit, die es gibt. „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, und was in keines Menschen Sinn gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieb haben." Herrlichkeit — keine Fürstenkronen, kein Kaiserreich. Das ist alles Erbärmlichkeit. Was sind die Reiche dieser Welt gegen die Herrlichkeit des Gottessohnes!
So wollen wir denn Gott danken, dass er uns verborgene Herrlichkeit geoffenbart hat, dass er unserem blöden Auge, das hier unten Befriedigung suchte und Herrlichkeit sehen wollte, eine andere Herrlichkeit aufgeschlossen hat, die nicht von dieser Welt ist, und dass er uns durch sein Wort immer tiefer in diese Herrlichkeit einführt. Wir wollen ihm danken, dass uns der Fürst der Finsternis nicht mehr antasten darf. Wir wollen in der Liebe und im Lichte bleiben, und damit als Lichter brennen in dieser dunklen Welt zur Ehre Gottes, des Vaters.
Wir kommen heute in der Betrachtung des Vaterunsers an die Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldiger«", oder wie es im Grundtext heisst: „wie wir vergeben haben unsern Schuldigern." Es ist nicht nur eine Bitte um Vergebung mit dem Vorsatz, dem Versprechen oder der Inaussichtnahme, andern auch unserseits zu vergeben, sondern etwas bereits Abgeschlossenes: „Wir haben unsern Schuldigern vergeben, vergib nun auch uns, Vater in den Himmeln." In Matthäus 18 steht das Zeitwort in der Vergangenheit, in Lukas 11 dagegen in der Gegenwart. Wie viel das Vaterunser voraussetzt, wenn in der Nähe betrachtet, das sehen wir aus den ersten Bitten desselben.
Soll es dem Herrn gelingen, uns aus dem Schlamm unsrer Eigenart herauszuheben, so kann er nicht anders, als uns die ganze Herrlichkeit unsrer Stellung ihm gegenüber vor Augen zu malen. Mit diesem wunderbaren Gebet, das wir von Kindheit auf kennen, dessen Tiefen wir aber nie zu erschöpfen vermögen, kleidet er uns in Priestergewand. Das Wunderbare, das mir vor Augen schwebt, sind die drei ersten Bitten, die wir in den letzten Tagen betrachtet haben. Im Rückblick auf diese Bitten kommt uns so recht zum Bewusstsein, welchen Adel er uns damit anvertraut, dass er uns diese Bitten in den Mund legt, welche Herrlichkeitsstellung er uns damit gibt, dass er uns erlaubt, priesterlich für ihn einzutreten; Sklaven, die auf der Erde kriechen, die noch an ihren Egoismus, an ihren eignen Namen und an ihren Willen gebunden sind, denen ihr Wille noch ihr Himmelreich ist, können das nicht.
Dazu kommt noch: Wenn Gott uns solche Bitten in den Mund legt, uns eine solche priesterliche Stellung anvertraut, ja, sie sogar von uns fordert, so sind für uns Kinder des neuen Bundes alle Forderungen, die uns vorher erschreckt hatten, ein Angeld für die herrliche adelige Stellung, die der Herr Jesus denen geschaffen hat, die durch die Gnade auf Bergeshöhe gestellt, in Priestergewand gekleidet sind, und deren Herzen sich öffnen für die Interessen des Vaters. Wie der Soldat Blut und Leben für den König hingibt, um wieviel mehr das Kind Gottes, wenn ihm Gott die Ehre erweist, es für sich zu wecken — das ist Bergesluft für von Gott Gezeugte. Solche können dann bitten: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigem.
Wie können wir freimütig zum Vater kommen, wenn wir etwas gegen den Bruder auf dem Herzen haben? „Und wenn du deine Gabe auf den Altar opferst und du fühlst, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe." Gehe hin zu ihm — vielleicht hast du selbst unrecht getan und gar keinen Blick dafür gehabt, dass du ihm weh getan hast. Wir dürfen nicht riskieren müssen, dass, wenn wir unser Vaterunser beten, in irgend einem Winkel des Herzens Erinnerungen an irgend eine noch ungetilgte Schuld in uns aufwachen, oder an Dinge, die wohl vergessen, aber nicht vergeben sind.
Im Matth.-Evangelium ist von Schuld die Rede, wo im Evangelium Lukas Sünde steht, aber auch im Letzteren ist nachher auch das Gebiet der Schuld noch besonders hervorgehoben. Wenn ich das sage, so ist es, damit jeder verstehe, dass man sich keiner besonderen Sünde bewusst zu sein braucht, um aus Herzensgrund die fünfte Bitte des Vaterunsers beten zu können. Im Gegenteil heisst es ausdrücklich, dass wir zuerst hingehen und uns versöhnen sollen, wenn wir etwas Besonderes auf dem Herzen haben. Dem ganzen Zusammenhänge nach ist es also das Gebet eines Kindes zum Vater — und zwar eines Kindes, das im Blute des Sohnes freien Zutritt zum Gnadenthron hat und sich sagt, wie sich der Apostel Paulus gesagt hat: „Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber damit bin ich noch nicht gerechtfertigt." Unsere Schuld Gott gegenüber ist tiefer, als wir uns auf irgend einer Stufe unsrer Entwicklung bewusst werden.
Die Augen gehen uns erst allmählig für die Grösse der Sünde und die Ansprüche unsres Gottes auf und damit, dass uns unser Gewissen zur Stunde nichts vorwirft, sind wir noch nicht rein. Das Blut Jesu Christi ist nicht nur zur Vergebung unsrer Sünden geflossen, sondern damit wir durch dasselbe tiefer gereinigt werden, als wir uns felbst zur Stunde bewusst sind.
1Joh 1,7 heisst es: „So wir aber im Lichte wandeln, sowie er im Lichte ist — mehr kann man nicht sagen — so haben wir Gemeinschaft untereinander", dann trennt nichts »lehr den Bruder vom Bruder und die Schwester von der Schwester, und nur wenn das der Fall ist, wandeln wir im vollen Licht. Licht und Liebe, Finsternis und Hass sind parallele Begriffe. „So wir im Lichte wandeln, wie er im Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde", also auch wenn wir im Lichte wandeln, bedürfen wir der fortwährenden Reinigung des Blutes, auch wo unser Gewissen uns nichts Besonderes vorwirft — da ist dann im Blute Raum für eine kindliche Anbetung dem Vater gegenüber. Nur dort ist Möglichkeit, mit dem Vater, bei dem keine Finsternis ist, in wirkliche, reale Verbindung zu treten.
Der Herr geht in dem, was er den damaligen Juden und Jüngern sagt, über den augenblicklichen Nahmen hinaus. Er fordert Dinge von ihnen, zu denen sie gar nicht fähig sind, ehe der Heilige Geist auf sie herabgeksmmen ist. Das Evangelium enthält aber Weissagungen, sonst wäre es nicht Evangelium, sondern Gesetz.
Der Herr Jesus geht immer weiter, als der alte Bund und das wäre zermalmend, wenn es nicht von ihm ausginge, der da ist die Erfüllung des alten und des neuen Bundes, in dem auch das Unmögliche möglich ist und das gerade in Bezug auf diejenigen Dinge, in denen wir, trotz redlichsten Sichabmühens, zu Schanden geworden sind. Dazu hast du ja gerade einen Heiland, dass du als ein Wurm zu feinen Füssen abdankst und alles von ihm erwartest, der die Macht und Ausrüstung gibt zu überwinden, wo du, vom menschlichen Standpunkte aus betrachtet, zu kurz kommen müsstest.
Dazu haft du ja gerade einen Heiland, dass er dir durch seinen Geist Wollen und Vollbringen schenke zu seiner Verherrlichung, damit du endlich das Vaterunser beten und nicht immer nur mein, sondern auch dein sagen lernst. Das bringt das Gesetz nicht fertig, dazu musste Christus kommen, damit nun durch seinen Geist, nachdem er Bahn gebrochen hat, das Gesetz auch in uns und durch uns erfüllt werde. O der Herrlichkeit des Evangeliums, tief wie Meerestiefen, Welt ohne Ende, heimatliche Luft für einen gefallenen Sünder, der fast erstickt ist in der schwülen Atmosphäre seines eignen Jagens nach Gerechtigkeit und Heiligkeit — Horizont, der sich weiter und immer weiter ausdehnt, je tiefer der Mensch den Blick hinein taucht. Dass wir das Ziel erreichen, dafür haben wir die Garantie im Blute Christi, das die Sünde ganz und vollkommen tilgt, damit der Geist Gottes ganz und vollkommen Raum bekomme. Warum kommt es viele so schwer an, andern zu vergeben? Warum stecken sie immer wieder armselige Grenzen?
Erstens ahnen sie gar nicht, wie gross ihre Schuld Gott gegenüber ist und fallen dann über ihren Bruder her und würgen ihn. Erkennt man einmal die eigene Schuld und die Tiefe des eignen Falles Gott gegenüber, so hat man nicht solche Mühe, dem Bruder zu vergeben. Zweitens verstehen sie noch nicht die tiefe Bedeutung jenes Wortes: „Denen, die Gott lieben, arbeiten alle Dinge zusammen zum Guten" — zur Ausreifung in die Herrlichkeit, zur Umgestaltung in Christi Bild. Zuweilen benutzt da gerade Gott die Unart des Bruders oder der Schwester, um uns die eigene Unart aufzudecken. Wodurch hat uns Christus erlöst? Dadurch, dass er alle Ungerechtigkeit der Menschen auf sich nahm und sich niemals beklagte.
Wir brauchen keine Sünde zu büssen, das hat unser Heiland getan — aber Gott braucht das Zukurzkommen unsres Bruders, um uns unsere eignen Rückstände unsrem Gott gegenüber zum Bewusstsein zu bringen. Sieh, wie weh es dir tut, wenn der Bruder dich zurücksetzt und wie bist du mit deinem Gott umgegangen? Vielleicht weiss der Bruder gar nicht, dass er dir weh getan hat? Merke doch endlich, dass du in Gottes Hand bist und dass niemand dir einen Nadelstich zufügen kann ohne Gottes Willen. Es fallt kein Tropfen Wermut oder bittere Arznei in unsern Becher ohne Gottes Willen, d. h. der nicht ein Heilmittel sein könnte gegen unsre Unart, der nicht zugelassen wäre, uns zu wecken, zu reinigen oder in die Tiefe zu führen, damit wir durch das, was uns seitens unsres Bruders so weh tut, unsrer an Gott und den Brüdern begangenen Unart auf die Spur kommen.
Das Vergeben und Tragen wird leicht, ja, kann sogar süss und selig werden, wenn wir in denen, die uns unrecht tun, Mitarbeiter an unsrer Seligkeit sehen, Mitarbeiter an der Ausgestaltung des vollen Heils. Nicht nur muss alles zum Besten dienen, sondern es dient alles buchstäblich zum Besten. Es ist eine ganze Werkstatt, wo alles unter einer Leitung steht zur Erreichung dessen, was Gott sich vorgenommen hat, nämlich die Umgestaltung des adamitischen Wesens in die Gestalt Christi von Herrlichkeit zu Herrlichkeit — aus Gnade in Gnade — nicht mit einem Schlage, aber auch nicht ziellos in's Blaue hinein.
Zielbewusst arbeitet der Herr an der Umgestaltung unsres Wesens, der Ausbildung und Zubereitung zur Wohnungnahme im Vaterhause. Wenn wir das einmal erkennen, sehen wir hinter der Hand des Bruders die Hand des Vaters. Dann ist das Ertragen nicht mehr so schwer; dann gibt man dem Bruder zurück, aber nicht Schlag für Schlag — man häuft feurige Kohlen auf sein Haupt. Diese brennen, aber das können wir ihm nicht ersparen. Diese Art Rache ist erlaubt, aber man kann die Gelegenheit hierzu nicht, wie man sagt, vom Zaun brechen, sondern muss warten, bis uns Gott den Bruder in die Hand liefert, wo er es sich gefallen lassen muss, sich einen Dienst von uns erweisen zu lassen, und wir tun es ganz einfältig, ohne ihm irgend etwas aufzurücken. Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!