Der Herr warnte dann seine Jünger nicht nur vor dem, was Ihm begegnen würde, sondern auch vor der Wirkung seines Weges auf sie selbst. „Ihr werdet alle Anstoß nehmen, denn es steht geschrieben:,Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden zerstreut werden‘“ (V. 27).
Das Kreuz beinhaltet für uns sowohl das Heil durch Ihn, der unsere Sünde trug, als auch die Seite der Schande, des Leidens und der Gefahr. Hier spricht der Heiland jedoch von der Art, in welcher es die Jünger erprobt, und nicht von der Erlösung. Bewirkt jenes gewaltige Werk der Leiden für unsere Sünden, bewirkt die Sühnung für die Schafe eine Zerstreuung? Ist es nicht im Gegenteil die einzig richtige Grundlage, auf der sie gesammelt werden? Kraft des Todes Christi für unsere Sünden werden die Schafe nicht zerstreut, sondern in eins gesammelt. Sogar andere Schafe, die nicht zu denen im jüdischen Schafhof gehören, sammelt Christus, damit sie eine Herde und ein Hirte seien (Joh 10,16).
Doch das Schlagen des Hirten weist auf seine gänzliche Erniedrigung als der Messias hin, der weggetan wurde und nichts hatte (Dan 9,26): „Ich werde . . . schlagen“, usw. bezieht sich darauf, dass Gott den Herrn hingegeben hat, um die Wirklichkeit seiner Verwerfung und seines Todes zu fühlen. Zweifellos wurde darin die Sühnung ausgeführt. „Schlagen“ ist ein allgemeinerer Ausdruck. Und obwohl Er die Leiden von Gott annahm, waren es buchstäblich seine Feinde, welche die Tat ausführten und die Gegenstände der göttlichen Rache wurden, wie in Psalm 69 ausgeführt wird. Im Schlagen verlor, in der Sühnung gewann Er sozusagen alles. Der reine, wenn auch kostbare Akt des Todes Christi beinhaltet jedoch genau genommen nicht die Sühne oder Wiedergutmachung.21 Ohne Zweifel war hierzu sowie auch zu anderen Zwecken in den Ratschlüssen Gottes der Tod notwendig. Die Sühnung beruht auf dem, was Jesus von Seiten Gottes und mit Gott durchlebte, als Er zur Sünde gemacht wurde – als Er nicht nur im Leib, sondern auch in der Seele unter dem göttlichen Zorn für unsere Sünde litt.
Außer Jesus sind viele gekreuzigt worden. Dabei wurde aber keine Sühne gebracht. Viele haben im Leben und bis zum Tod um der Wahrheit willen grauenhafte Qualen durchlitten. Sie wären jedoch die ersten, welche die falsche Meinung verabscheuen würden, dass ihre Leiden für sie selbst, geschweige denn für jemand anderen, Sühne brachte. Viele Erlöste haben erfahren, was es heißt, von Gott geschlagen und verwundet zu werden, wie derselbe Psalm außerdem bezeugt. Tatsächlich war das immer mehr oder weniger der Platz der Diener Gottes, der Propheten, und der Gerechten in Israel. Sie nahmen ihre Heimsuchung und Verfolgung, worin sie auch bestehen mochte, von Gott an und nicht von Menschen.
Diesen Platz erprobte der Herr bis zum äußersten; denn Er muss in allem den Vorrang haben. Er allein vollbrachte die Sühnung. Aber Er kannte auch jedes Leid, das ausschließlich dem vollkommenen Menschen, dem Sohn Gottes, zu tragen möglich war. Das Schlagen des Hirten, der nicht nur das Oberhaupt der Schafe, sondern auch der Propheten, die der Herr für Israel erweckt hatte, war, bezieht sich auf jenes vollständige Abschneiden, das Ihm am Kreuz zustieß. Es war nicht nur so, dass Er in seinem Bewusstsein alles Leid vorausfühlte, sondern es offenbarte sich auch schon in der Wirklichkeit seines Erlebens vor dem Kreuz. In seinem Werk gibt es weit mehr als nur die Sühnung. Er verwirklichte in seiner Seele den ganzen Zustand, in dem sich das Volk Gottes befand, und seine eigene vollständige Verwerfung durch die Sünde und Torheit des Menschen und Satans Bosheit.
Die Folge dieser Erniedrigung des Heilandes, schon bevor sie am Kreuz vollendet wurde, war die Zerstreuung der Jünger. „Die Schafe werden zerstreut werden.“ Sie strauchelten und flohen in der Nacht, bevor der Schlag ihren Meister wirklich traf. Sie verstanden das Geschehen genauso wenig wie manche Menschen heutzutage die Schriften, die davon sprechen, obwohl der Grund für dieses Unverständnis heute ein ganz anderer ist. Sie konnten nicht begreifen, warum der Messias so behandelt wurde und wie Gott es zulassen konnte. Denn es ist klar, dass Christus alles von Gott und nicht vom Menschen annahm und Ihm alles zuschrieb. Der Glaube zieht niemals in Betracht, dass die Heimsuchung aus dem Nichts hervorkommt, sondern erkennt unseres Vaters Hand in allem. Dabei mag das Leid in sich selbst schändlich und grausam sein, wenn man auf die unmittelbar Wirkenden sieht.
21 Als Antwort auf eine Kritik über diese Bemerkung, dass die Wiedergutmachung nicht „der reine, wenn auch kostbare Akt des Todes Christi“ sei, schrieb Kelly später: „Dieser (Bemerkung) wurde Gewalt angetan, als beinhalte sie eine Leugnung des Leidens Christi für unsere Sünden oder dass solche Leiden bis zum Tod Sühnung seien. Kann die Verkehrtheit weiter gehen? Ein Hauptgesichtspunkt dieses Abschnittes, der sich über einen längeren Absatz erstreckt, besteht darin, dass, obwohl Christi Tod zwar für die Wiedergutmachung notwendig war, trotzdem die absolute Notwendigkeit bestand, dass Er den göttlichen Zorn ertrug und von Gott um unserer Sünden willen verlassen wurde. Ohne letzteres hätte die Dahingabe seines Lebens keine Wirkung gehabt. Möglicherweise sind sich diejenigen, die hier Anstoß nehmen, nicht bewusst, wie weit die Feinde der Wahrheit die Sühnung zerstören, indem sie diese allein in dem Tod und Blut Christi ohne das Ertragen des Gerichtes Gottes für die Sünde bestehen lassen. Ein verhängnisvoller Irrtum! Niemand anderes als die göttliche Person des Sohnes, die Mensch wurde, konnte das Erforderliche ausführen. Ohne das Vergießen seines Blutes gibt es keine Vergebung. Sein Tod war die absolute Voraussetzung, um uns von der Sünde zu befreien. Doch das alles konnte nur von Nutzen sein, weil Er das Verlassensein von Gott für die Sünde erduldete“ (Bible Treasury, Dez. 1866, S. 192). (W. J. H.).↩︎